Erinnerungen zum 100. Geburtstag
Leonard Bernstein. Tochter Jamie über das private wie das öffentliche Leben des Komponisten und Dirigenten
Die Tochter des charismatischen Musikers schrieb ein Buch. Der KURIER sprach mit ihr.
„Famous Father Girl“heißt das kommende Woche erscheinende Buch von Leonard Bernsteins Tochter Jamie über den weltberühmten Dirigenten und Komponisten (1918–1990). Dessen 100. Geburtstag wird heuer mit weltweit 3.300 Veranstaltungen gefeiert.
KURIER: War es einst schwierig, die Tochter von Leonard Bernstein zu sein?
Jame Bernstein:
In mancher Hinsicht ja. Aber im Gesamten war es eine wundervolle Erfahrung. Mein Vater war eine herzliche, gefühlvolle, lustige Person. Es machte Spaß, ihn zum Vater zu haben, er unternahm auch sehr gerne Sachen mit meinen Geschwistern und mir. Und er nahm uns immer mit zu Proben, auf Tourneen mit den New Yorker Philharmonikern. Und er brachte uns immer etwas bei – er war ein zwanghafter Lehrer! Jeden Tag lernten wir über Musik, Literatur, Geschichte.
Nahm er Sie auch mit nach Wien?
Ja! Das waren fantastische Erfahrungen. Wir wohnten in unglaublichen, glamourösen Hotels. Aber mein Vater empfand das nie als selbstverständlich. Er war selber von seinem eigenen Glück erstaunt. Und wenn er uns mitgenommen hat, konnte er all das durch uns auf frische Art wiederaufsNeueerfahren.Er liebte es so sehr wie wir.
Leonard Bernstein war auch für das Wiener Musikleben wahnsinnig wichtig: Er brachte Mahler zurück nach Wien.
Immer, wenn er von Wien aus wieder nach Hause kam, ging er drei Meter über dem Boden, weil seine Erfahrungen hier so großartig waren. In Wien wurde er wie ein Gott behandelt. Wenn er dann wieder zu Hause war, zogen wir ihn auf und erinnerten ihn daran, dass er ein normaler Mensch wie alle anderen ist (lacht).
Die Fallhöhe zwischen öffentlicher Figur und Familienmensch war sicher schwierig für ihn.
Ja, das war es wohl. Es war auch schwierig für ihn, zwischen Dirigent und Komponist zu wechseln: Einerseits immer von Menschen umgeben zu sein und andererseits alleine zu versuchen, Noten in sich zu finden. Er liebte und brauchte beides.
Berühmtsein war damals wohl auch noch weniger kompliziert.
Ja, heute ist alles für Menschen im Rampenlicht viel intensiver, mit Social Media und Smartphones. Jeder fotografiert immer! Aber auch damals gab es schon viel Aufmerksamkeit. Wenn wir ausgingen, kamen die Menschen zu ihm, baten ihn um Autogramme. Aber noch keine Selfies!
Bernstein war seiner Zeit voraus: Er hat mit den Kinderkonzerten im Fernsehen schon in den 1950ern und 1960ern die klassische Musik an viele Menschen gebracht, die sie sonst wohl nie erlebt hätten.
Ja, er war auf viele Arten seiner Zeit voraus. Und durch die Fernsehkonzerte war Klassik gratis für die Kinder. Er nahm das Elitäre aus der klassischen Musik und zeigte allen, dass jeder sie genießen konnte. Man musste nicht aus der Oberschicht kommen oder eine gute Ausbildung haben. Nichts davon hat Bedeutung. Und er war im Fernsehen so ein begnadeter Kommunikator! Es war wie ein Wunder, dass er und das damals neue Fernsehen zur gleichen Zeit da waren. Sie passten so gut zusammen. Er sprach in die Kamera und man hatte das Gefühl, dass er zu einem persönlich spricht.
So eine Persönlichkeit würde die Klassik wieder brauchen.
Es gab niemanden mehr, dersodynamischwar.Aberes hat sich auch die Welt verändert. Damals gab es einen Bildschirm in der Wohnung, vor dem alle gemeinsam saßen. Auch deswegen hatte mein Vater so großen Einfluss. Heute sind es oft zehn, wenn man alle Laptops, Smartphones, Tablets mitzählt. Selbst wenn wir Leonard Bernstein zurückbringen würden, hätte er nicht mehr denselben Einf luss.
Gibt es etwas, das er Ihnen beigebracht hat, das Ihnen besonders wichtig ist?
Er sagte einmal: Du musst deine Erfahrungen schätzen und beschützen. Ich habe deswegen mein ganzes Leben Tagebuch geführt – und das half mir sehr, dieses Buch zu schreiben. Meine Geschwister konnten sich an nichts erinnern!
Waren die beiden involviert in die Entstehung?
Ja, sie hatten Veto-Recht, wenn sie etwas nicht darin haben wollten. Aber es gab nichts.
Ist die nach dem Tod Ihrer Mutter öffentlich bekannt gewordene Homosexualität Ihres Vaters Thema im Buch?
Ja. Mein Empfinden ist: Immer wenn man versucht, etwas zu verstecken, fällt einem das später auf den Kopf. Es ist viel besser, es anzusprechen, mit Ehrlichkeit und Liebe. Ja, es war kompliziert für uns und nicht leicht zu verstehen. Und manchmal schmerzhaft. Unsere Familie hatte eine ehrliche Nähe und Wärme. Die war so stark, dass wir einander eng verbunden blieben.