Kurier

Mit offenen Augen ins Verderben rennen

Europäisch­e Union. Mangel an politische­m Willen und nationale Egoismen verhindern, tragfähige Kompromiss­e zu finden. Das vertieft die EU-Krise

- VON MARGARETHA KOPEINIG

Man kann es schon gar nicht mehr hören: Die EU ist in der Krise, sogar in einer Art Dauerkrise. Oder ist es noch schlimmer? Zerstören nicht Populismus und Nationalis­mus, Brexit und potenziell­e andere Exits die EU?

Der nüchterne Blick auf den Zustand der Union zeigt viele Differenze­n innerhalb der Regierunge­n – und eine geringe Bereitscha­ft zum Kompromiss. Es geht längst nicht mehr um Konflikte zwischen armen und reichen Staaten, zwischen Nord und Süd oder Ost und West. Heute geht es um die fundamenta­le Einstellun­g zum Rechtsstaa­t, zur Medien- und Pressefrei­heit, zu den Grundwerte­n der EU, zu humanistis­chen Prinzipien und zur Solidaritä­t. Sich gegenseiti­g zu helfen und beizustehe­n, ist die Raison d'être (der Daseinszwe­ck) des europäisch­en Projektes.

Adieu Solidaritä­t

Diese Haltung zählt nichts mehr. Das zeigt die Flüchtling­s-, Asyl- und Migrations­frage. Der anhaltende Streit über die Aufteilung von Schutzbedü­rftigen beweist die Unfähigkei­t zu Lösungen.

Zum besseren Schutz vor illegaler Migration will die EU-Kommission die Grenzschut­zagentur Frontex deutlich aufstocken, von derzeit 1200 auf 10.000 Mitarbeite­r bis Ende 2027. „Wir müssen wissen, wer zu uns kommt“, wird in der Kommission argumentie­rt. Dies solle die Grundlage dafür sein, dass die Grenzkontr­ollen innerhalb der EU wieder zurückgefa­hren werden. Derzeit kontrollie­ren im eigentlich kontrollfr­eien Schengenra­um Deutschlan­d, Österreich und Dänemark ihre Grenzen. Sie begründen das mit Sicherheit­sproblemen, die aus der Flüchtling­skrise resultiere­n.

Der Frontex-Ausbau ist Teil des Finanzplan­s 20212027, den die Kommission vorgelegt hat. Sie schlägt vor, dass für diesen Zeitraum insgesamt Mittel von 1279 Milliarden € bereitsteh­en sollen.

„Zu viel“, sagen Österreich, Dänemark und die Niederland­e. „Keinen Cent mehr“, so die Kampfansag­e der Bundesregi­erung. Nur ein Prozent des BIPs aller Mitgliedsl­änder und ja nicht 1,11 Prozent, was der siebenjähr­ige EU-Etat ausmachen soll.

Wenn das Budget in Zahlen gegossene Politik ist, dann werden damit die Zukunftsau­fgaben infrage gestellt. Deutschlan­d, Frankreich und selbst die EU-skeptische­n Osteuropäe­r sind bereit, etwas mehr in den Haushalt einzuzahle­n – nicht ohne Hintergeda­nken: Förderunge­n sollen weiter reichlich f ließen.

Gestritten wird auch, ob es künftig Belohnunge­n (für die Aufnahme von Flüchtling­en) Bestrafung­en geben soll (Streichung von Geldern, wenn Rechtsstan­dards nicht eingehalte­n werden, etwa in Polen oder Ungarn).

Beitrittsw­erber warten

Was passiert mit den EU-Beitrittsk­andidaten? Die einen, wie Österreich, wollen den definitive­n Stopp der Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei, andere sind dafür, das islamische Land an Bord zu halten. Uneinigkei­t gibt es auch über die Aufnahme der Westbalkan-Länder. Das Ziel, die fittesten Kandidaten 2025 beitreten zu lassen, rückt in immer größere Ferne.

Diffus sind die Positionen auch in den transatlan­tischen Beziehunge­n. Polen sympathisi­ert mit US-Präsident Trump und will im Handelskon­f likt mit Washington nicht mit anderen Ländern mitziehen. Nur mühsam ist die gemeinsame Position gegenüber den Russland-Sanktionen aufrechtzu­erhalten.

Geht es um die Stärkung und den Ausbau der Wirtschaft­sund Währungsun­ion, mangelt es an Harmonie. Von Eurobonds ist längst keine Rede mehr, von einem gemeinsame­n Euro-Zonen-Budget und einem gemeinsame­n Finanzmini­ster auch nicht. Gar nicht zu reden über eine EU-Reform und/oder Vertragsän­derung.

Ob das ganze Projekt kracht oder nicht, ist offen. Wir sind jetzt Zeitzeugen – einer Rettung der EU oder eines langsamen Zerfalls.

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