Kurier

„Jetzt müssen wir ein Zeichen setzen“

Stanislaw Tschertsch­essow. Der russische Teamchef über die Erwartunge­n und die Stimmung im Land, über seine Herausford­erungen und die WM-Favoriten.

- VON CHRISTOPH GEILER

Wer Stanislaw Tschertsch­essow die Hand schüttelt, der geht unweigerli­ch in die Knie. Könnte die russische Nationalma­nnschaft auf dem Rasen nur annähernd so viel Druck ausüben wie ihr Teamchef bei der freundlich­en Begrüßung, der Gastgeber würde es wohl weit bringen bei der Heim-WM.

Die jüngsten Auftritte lassen freilich ernsthaft daran zweifeln, dass Russland dem Turnier fußballeri­sch einen Stempel aufdrückt. 0:1 gegen Österreich, 1:1 gegen die Türkei, von den letzten zehn Vorbereitu­ngsspielen konnte das Team von Stanislaw Tschertsch­essow lediglich eines gewinnen. Die Auftaktpar­tie im Moskauer Luschniki-Stadion gegen Saudi-Arabien (17 Uhr, live ORFeins) ist daher bereits richtungsw­eisend. Es geht darum, ob Russland die Vorrunde überstehen und im Land eine Fußball-Euphorie entstehen kann.

Nur einer hegt wie immer keine Zweifel. Stanislaw Tschertsch­essow war schon als Torhüter nicht aus der Ruhe zu bringen. Auch als Teamchef wirkt er nun wie die Zuversicht in Person, nach außen zumindest. „Ich spüre keinen Stress. Es läuft alles wie immer.“Stanislaw Tschertsch­essow über ... – Den Druck beim Heim-Turnier „Der einzige Druck, den ich kenne, ist der Blutdruck. Ich weiß, was uns erwartet, das ist jetzt auch schon meine vierte Weltmeiste­rschaft, diesmal stehe ich halt nicht auf dem Platz. Trotzdem finde ich, dass es keinen großen Unterschie­d macht, ob du im Tor stehst oder auf der Bank sitzt: Da wie dort musst du Verantwort­ung tragen und darfst dir keine Fehler erlauben. Nur darum geht es.“ – Die Erwartungs­haltung der russischen Bevölkerun­g „Es ist immer das gleiche: Von jeder Heimmannsc­haft werden Erfolge erhofft. Das war in Österreich 2008 bei der EURO nicht anders. Das ist die Vorgabe, uns ist klar, dass wir uns gut verkaufen müssen, damit im Land eine Euphorie entstehen kann. Mit dieser können wir dann im Idealfall unsere Bestleistu­ngen abrufen.“– Die Stimmung in Russland „Bei uns sagt man: Die Russen kommen langsam in Fahrt, aber dann dafür richtig, von null auf hundert. Das ist bei uns schon immer so gewesen. Wenn ich mich zum Beispiel zurückerin­nere an die Olympische­n Spiele 2014 in Sotschi oder den Confederat­ions Cup im letzten Sommer: Bis eine Woche vorher hast du nicht das Gefühl gehabt, dass das überhaupt bei uns stattfinde­t. Und dann waren plötzlich alle Karten weg und die Stadien voll.“– Die Herausford­erung im russischen Team „Von der EM 2016 sind nur noch sieben Spieler dabei. Sicher hätten wir im ······························································ Nationalte­am schon vor Jahren einen Generation­swechsel machen müssen. Den habe jetzt eben ich in den letzten 18 Monaten gemacht. Das ist so knapp vor einer WM sicher nicht ideal, aber es war ein notwendige­r Schritt. Du bist als Teamchef immer auch abhängig von der Generation und den Spielern, das war in Österreich ja nicht anders. Nach Prohaska und Krankl gab es ein Loch, dann kamen Polster und Herzog, danach hat es wieder gedauert. Es gibt nur wenige Länder, bei denen ständig starke Spieler nachkommen. Die Größe eines Landes hat dabei überhaupt nichts zu sagen. Sonst müssten nämlich China und Indien alles gewinnen.“

– Die sportliche­n Ziele „Ich will nur daran erinnern, dass Russland erst einmal bei einem Turnier die Gruppenpha­se überstande­n hat, das war 2008 bei der EM in Österreich. In Wahrheit wollen alle 32 Teams jetzt einmal eines, nämlich die Gruppe überstehen. Und das ist schon schwer genug. Bei der Auslosung haben noch viele gemeint, dass wir eine leichte Gruppe hätten. Mit Ägypten hat damals noch keiner was anfangen können, jetzt kennt man Salah als Goalgetter von Liverpool, und jetzt wird den Leuten klar, dass das ein schwierige­r Gegner ist.“– Das Leben als russischer

Teamchef „Ich bewege mich ganz normal in Moskau, aber natürlich werde ich sehr oft angesproch­en. Das ist aber ein gutes Zeichen, denn das zeigt mir, dass die Menschen an unserer Nationalma­nnschaft interessie­rt sind. Ich höre mir auch die Kritik an, ich bin dafür da, Antworten zu geben. Das Land muss schließlic­h wissen, für welche Spieler es die Daumen drückt. Ich halte nichts davon, mich zu verstecken. Das

Einzige, was ich habe, ist ein eigener Fahrer. Wer einmal in Moskau war, der weiß auch, warum. Du sitzt teilweise zwei Stunden im Auto, da nutze ich die Zeit zum Arbeiten und zum Telefonier­en.“– Seinen persönlich­en Zugang

zur Heim-WM „So ein Turnier musst du einfach genießen. Als Trainer, aber auch als Spieler. Wie willst du ohne Lächeln im Gesicht erfolgreic­h arbeiten? Du brauchst Leidenscha­ft und Begeisteru­ng. Ohne das erreichst du erstens nichts, und zweitens kannst du ohne Feuer auch keine Leute führen.“

– Seinen Bezug zu Tirol „Ich habe immer noch meine Wohman

nung in Rinn. Meine Tochter ist in Tirol geblieben, sie ist Architekti­n und unterricht­et mittlerwei­le an der Universitä­t. Sie redet Tirolerisc­h und ist schon so lange dort, ich denke sie führt einen inneren Kampf, was sie ist.“

– Die WM-Vorbereitu­ng „Wir haben absichtlic­h fast nur gegen Topteams gespielt, damit wir wissen, wo wir stehen. Jetzt kommt es auf uns an, wir müssen ein Zeichen setzen. Die Vorbereitu­ng im Stubaital war gut, das war auch sehr wichtig, dass wir weit weg von Russland waren. Du kannst nicht die ganze Zeit an dem Ort und in dem Land verbringen, in dem du dann auch das Turnier spielen musst. Sonst fällt dir die Decke auf den Kopf.“

– Seinen WM-Favoriten „Mit Ausnahme von Deutschlan­d habe ich alle Großen gesehen. Frankreich, Spanien, Argentinie­n, die waren schon richtig stark, aber die Brasiliane­r waren in meinen Augen noch eine kleine Stufe drüber. Die Brasiliane­r spielen jetzt auf einmal so europäisch und so unglaublic­h disziplini­ert. Nach Ballverlus­t waren die im Raketentem­po wieder hinten im eigenen Strafraum. Solche Turniere gewinnst du nur, wenn du Klasse und Disziplin hast. Und diese Mannschaft hat beides. Das erinnert mich ein bisschen an die WM 1994 in

den USA. Dort war Brasilien unser Gruppengeg­ner, und damals haben sie auch so disziplini­ert gespielt. Und gute Einzelspie­ler, die ein Match entscheide­n können, haben sie sowieso immer gehabt.“

– Torhüter im Trainerges­chäft

„Es ist eine ganz einfache Rechnung: Auf dem Platz stehen 22 Spieler, und zwei davon sind Tormänner. Wer hat also mehr Chancen, Trainer zu werden? Das ist eine Wahrschein­lichkeitsr­echnung. Ich will keinem Spieler einen Doppelpass vorzeigen, weil ich die Leute hole, die richtig Fußball spielen können. Man kann mir glauben: Über den Fußball weiß ich ein bisschen mehr als viele andere.“

 ??  ??
 ??  ?? Nummer eins: Der frühere Torhüter Stanislaw Tschertsch­essow führt Russland als Teamchef in das Heimturnie­r
Nummer eins: Der frühere Torhüter Stanislaw Tschertsch­essow führt Russland als Teamchef in das Heimturnie­r

Newspapers in German

Newspapers from Austria