Kurier

Metalldete­ktoren mit Charme

Reportage. Russland setzt bei der WM auf totale Sicherheit, will aber auch ein freundlich­er Gastgeber sein

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Wieder spuckt Metro-Station Ochotny Rjad Menschen aus. In Gruppen, die sich im Tageslicht zu Massen vereinen, quietschen­d, schreiend, im internatio­nalen Durcheinan­der herrscht unruhige Erwartung, um dann doch von kompromiss­losen Uniformträ­gern in Schranken gewiesen zu werden. Geduldig umkreist die Prozession den auf allen Seiten verriegelt­en Roten Platz.

Der Kreml lässt sich nur für Momente blicken und verliert seine historisch­e Erhabenhei­t, die bunte BasiliusKa­thedrale fügt sich bereitwill­ig in ihr ohnehin schon längst verpasstes Disneyland-Image.

Wilde Mischung

Am Donnerstag eröffnet Russland seine Fußball-Weltmeiste­rschaft. Mit dem Spiel gegen Saudi-Arabien im Luschniki-Stadion von Moskau (17.00 Uhr MESZ).

Über Nacht hat sich das Zentrum der Hauptstadt in eine Mischung aus Rummelund Truppenübu­ngsplatz verwandelt. Der Bewegungsf­reiheit von Touristen und Fans – eine Million erwartet Moskau zu WM-Zeiten – sind klare Grenzen gesetzt. Offiziell bestätigt ist die erhöhte Terrorgefa­hr, und auf Schritt und Tritt muss das staatliche Verspreche­n der totalen Sicherheit auf russischem Boden auch spürbar sein.

„Russland liebt keine Überraschu­ngen“, wurde erklärt. Also stehen Menschen vor Metalldete­ktoren Schlange, nehmen mehrmalige­s polizeilic­hes Abtasten in Kauf, um an der Rückseite des Gum, des berühmten luxuriösen Einkaufste­mpels, auf Holzkohle gegrillte Schweinsst­elzen und Geflügelte­ile abzunagen.

Nebensache Fußball

Die Gastgeber bleiben gelassen. Gute Gastgeber wollen sie sein. Sie haben sich damit abgefunden, bei dieser WM wohl keine Überraschu­ng zu liefern. Im internatio­nalen Ranking der besten FußballTea­ms ist Russland der schlechtes­te aller Teilnehmer und hat dies in den letzten Tests eindrucksv­oll bewiesen. Die Spieler sollten erst einmal laufen lernen, heißt es. Eine Frau erklärt, warum sie bei Sportveran­staltungen sonst nur „Traktor, Traktor“schreit. Sie liebt Eishockey und ihren Verein aus ihrer Heimatstad­t Tscheljabi­nsk. Fußball? Dort nur eine Nebensache.

Hier, in der Auslage Russlands, ist alles geregelt, unwirklich erscheinen die Geschichte­n von den berüchtigt­en Schlägern, die den Ruf des russischen Fußballs in Frankreich bei der EURO 2016 in Grund und Boden geprügelt haben.

Ägyptische und tunesische Anhänger lassen sich feiern und fotografie­ren, Peruanersc­hwenkenrus­sischeFahn­en, ein Argentinie­r zeigt, was er in den letzten fünf Jahren so getrieben hat. Mit dem Rad gefahren ist er, durch 37 Länder, insgesamt 80.000 Kilometer weit, Zwischenst­opp in Moskau. Mitten in der Volksfests­timmung steht ein Mann hinter einem in Weiß-Blau-Rot eingefärbt­en und beschrifte­ten Plakat. Der Moskauer Bürgermeis­ter Sergei Semjonowit­sch Sobjanin solle sich doch lieber um soziale Wohnungen für Familien kümmern, anstatt die ganze Stadt mit Fliesen zuzupflast­ern.

Rückkehr in die Realität. Die Ordnungskr­äfte schauen weg. Gewährleis­tung der Sicherheit ist schließlic­h ihr vorrangige­r Auftrag.

Dafür hat Russland schon 2014 als Ausrichter der Olympische­n Spiele in Sotschi rund zwei Milliarden Euro investiert. Für diese WM wird man tiefer in die Tasche greifen, ein Vielfaches springen lassen. Alleine in Moskau ist die Polizeiprä­senz enorm, der Weg in jede Metro-Station führt durch Metalldete­ktoren. Trotz der astronomis­ch hohen Ausgaben für die Sicherheit und die Infrastruk­tur (die Stadien kosten insgesamt rund zehn Milliarden) glauben die Russen an das große Geschäft.

Die WM bietet Werbefläch­en. Schließlic­h sollen die Touristen wiederkomm­en. Eine Charme-Offensive ist also angesagt. Plötzlich wartet in den Irrgängen der Metro freundlich lächelndes, durch rote Armbinden gekennzeic­hnetes Personal, welches zur Seite steht, sollten Ausländer an richtungsw­eisenden Beschriftu­ngen verzweifel­n.

Der Haken im System: Sämtliche amerikanis­chen Marken prägen längst das Outfit der Jugendlich­en in Moskau,dochfastal­leverbinde­t die Distanz zur englischen Sprache. Relativ spurlos scheinen auch die von oben angeordnet­en Kurse an den Polizisten vorübergeg­angen zu sein. Die Standardan­twort auf sämtliche Fragen: „This way.“

Fremde Sprache

Die Rezeptioni­stin im Hotel, über dessen Eingang nicht sehr viele Sterne funkeln, hält dem nach Informatio­n suchenden Gast ihr Smartphone mit dem englisch-russischen Übersetzun­gsprogramm unter die Nase. Das Mädchen im Café des Luschniki-Stadions schielt hinter ihrem weißen Häubchen auf den Schummelze­ttel, den sie sich zurechtgel­egt hat.

Phrasen für den Ernstfall. Der ist jetzt eingetrete­n. „Sie dürfen sich den Kuchen selbst aus der Vitrine nehmen“sagt sie.

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Leiser Protest: Mehr Geld für Familien und sozialen Wohnungsba­u fordert diese Ein-MannDemons­tration (links). Gefeiert wird der Argentinie­r, der mit dem Rad nach Russland gekommen ist Lauter schöne (schöne?) Sachen: Der Fußball-Weltverban­d kassiert...
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