Kurier

Die Antarktis schmilzt

Meeresspie­gel. Das Eis auf dem Südkontine­nt wird weniger – das hat viele Gründe und eine Folge: Für Küstenorte wird es unangenehm

- VON UTE BRÜHL

Mehr Wasser als der Bodensee fasst: 76 Gigatonnen Schmelzwas­ser der Antarktis flossen von 1992 bis 2012 jährlich ins Meer. Mittlerwei­le sind es drei Mal so viel – nämlich 219 Gigatonnen (Milliarden Tonnen Anm.). Das hat Folgen für den Meeresspie­gel. Die Antarktis ist nun für einen jährlichen Anstieg von 0,6 Millimeter und nicht mehr von „nur“0,2 Millimeter verantwort­lich. Der Prozess beschleuni­gt sich also.

Allerdings trägt die Antarktis derzeit nur zu einem kleinen Teil zum Meeresspie­gelanstieg bei. „Das Schmelzen des Grönlandei­ses und der Gletscher sind gegenwärti­g der größte Beitrag. Aber der Anteil der Antarktis nimmt stark zu“, weiß der Polarforsc­her Ingo Sasgen.

Zu dieser Erkenntnis kommt nicht nur er, das sagen auch insgesamt 84 Experten von 44 internatio­nalen Institutio­nen, die ihre Ergebnisse verglichen haben. Ingo Sasgen, der am Alfred-Wegener-Institut Bremerhave­n, arbeitet, erzählt im KURIER-Gespräch von den Herausford­erungen: „Es ist nicht leicht, an die Daten zu kommen. Denn der kälteste Kontinent ist nicht nur riesig. Auch die Bedingunge­n dort sind für Forscher widrig.“

Mittlerwei­le nutzen die Forscher Satelliten, wobei es drei unterschie­dliche Messmethod­en gibt. (Für Wissbegier­ige: Messungen der Eishöhe und der Schwerkraf­t sowie die Input-Output-Methode, bei der der Zuwachs durch Schnee dem Eisf luss ins Meer gegenüberg­estellt werden). Doch wie gesagt: Am Ende kommen alle Forscher zu ähnlichen Ergebnisse­n.

Komplexer Kontinent

Weiteres Problem: „Die Mechanisme­n in der Antarktis sind viel komplexer als etwa in Grönland, wo zum Großteil wegen der Erderwärmu­ng das Eis schmilzt und direkt in den Ozean fließt – und somit zum Anstieg des Meeresspie­gels beiträgt.“

Ein Faktor ist das dünner werdende Schelfeis rund um den Kontinent: „Dieses wirkt wie ein stabili- sierender Ring um die Antarktis. Doch Windveränd­erungen, die wohldurchd­enKlimawan­delbeeinfl­usst wurden, unterspüle­n diesen Ring mit wärmerem Ozeanwasse­r. Seine Rückhaltek­raft lässt nach“, sagt Sasgen. Beispiel: Im vergangene­n Jahr brach das riesige LarsenCSch­elfeis. Betroffen vom Wandel ist vor allem die Westantark­tis.

Steigt die Temperatur dort um 3 Grad, so trägt die Antarktis bis 2070 zu einem Anstieg des Meeresspie­gels von 27 Zentimeter bei (Grafik). In Summe würden er um einen halben Meter steigen. Große Gebiete in Küstennähe wie Teile von Bangladesc­h werden überflutet, andere, etwa in den Niederland­en, sind nur mit hohem technische­n Aufwand zu halten. Etwa eine Milliarde Menschen dürften direkt betroffen sein, auch Bewohner der Metropolen New York, Shanghai oder Hamburg.

Keine Panikmache

Ein Horrorszen­ario wird aber mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit nicht eintreffen: „Kein Forscher rechnet damit, dass sämtliches Antarktise­is schmilzt. In dem Fall würde der Meeresspie­gel um 58 Meter steigen“, sagt Sasgen. Eine Zahl, die vergegenwä­rtigt, wie viel Eis der Kontinent trägt, der größer ist als Europa.

Was die Eisschmelz­e auf der Antarktis abmildert, dem ist Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolge­nforschung nachgegang­en. „Es gibt ein Zusammensp­iel von Eis und Erdkruste: Die Eismassen sind so schwer, dass sie die Landmasseu­ntersichin­dieTiefedr­ücken. Schmilzt das Eis, tritt der gegenteili­ge Effekt ein, die Erdkruste hebt sich und stabilisie­rt den Eisschild.“

Das ist ein Grund, warum vor 10.000 Jahren das schnelle Abschmelze­n des Südkontine­nts gestoppt wurde: „Das Eis zog sich damals in einem Zeitraum von 1000 Jahren um mehr als 1000 Kilometer ins Landesinne­re zurück. Plötzlich hat sich der Prozess umgedreht.“

Haben wir also Grund optimistis­ch zu sein? „Nein“, sagt Albrecht: „Das System wird derzeit viel zu schnell gestört. Das Heben der Landmassen geht langsamer vor sich“, warnt Albrecht. Und noch einen Wermutstro­pfen hat er parat: „Das System ist sehr träge. Selbst wenn wir es technologi­sch schaffen würden, die weltweite Temperatur wieder zu reduzieren, sind bestimmte Prozesse in der Antarktis, die heute ausgelöst werden, unumkehrba­r.“Für Orte an der Küste ist das alles keine gute Nachricht.

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