Ein „Nahschuss“tötete Rekruten
Urteil: 15 Jahre Freiheitsstrafe. Gutachter konterte Unfallversion des Angeklagten
Am Urteilstag erregte zunächst ein Geigenkasten Aufmerksamkeit. Eine für den Prozess um den erschossenen Rekruten im Wiener Landes gericht eingeteilte Geschworene wollte damit den Verhandlungssaal betreten.
„Was ham’s denn da drin ?“, begehrte ein Justiz wache beamter Auskunft. „Eine Geige.“
„Das sagen alle, lassen’s mi reinschauen!“
Als tatsächlich das Streichinstrument zum Vorschein kam, erlaubte sich der Bewacher die spitze Frage: „San Sie für die Musik da drinnen zuständig?“
Nein, aber für das Urteil: Der 22-jährige ehemaligen Rekrut Ali Ü. hat in der Albrechtskaserne seinen Kameraden Ismail M. erschossen. Die Laienrichter entschieden am Donnerstag auf Mord. Das Urteil lautet 15 Jahre Haft.
Der Schuld spruch der Geschworenen fiel mit dem knappestmö glichen Abstimmungs verhältnis von 5:3 Stimmen aus. Bei Stimmen gleichheit wäre der Vorwurf der vorsätzlichen Tötung vom Tisch gewesen. Während der Angeklagte bei der Urteilsverkündung wie schon während des gesamten Verfahrens ruhig, fast teilnahmslos wirkte, reagierten seine Angehörigen teilweise entsetzt. Die Geschworenen folgten damit nicht der Version des Angeklagten, wonach es sich um einen fahrlässig herbeigeführten Unfall gehandelt habe.
Gestolpert?
Für letztere Annahme müsste sich am 9. Oktober 2017 folgende Kette unglückseliger Umstände ergeben haben: Ali Ü. ist das StG77 irgendwann nach Antritt seines Wachdienstes mit dem Kolben voran aus der Hand gefallen und hat sich selbstständig geladen. Beim faden Wacheschieben hat er – wie so oft – mit dem Sicherungsknopf gespielt und die Waffe damitentsichert. Dannbetrat er mit dem Finger am Abzug den Wachcontainer, in dem sich der Kamerad ausruhte, umihnzuwecken. Dabeistolperte er über die eigenen Füße oder ein offenes Schuhband, fielzuBoden, dabeilöstesicheinSchussundtrafden aufdemBettliegendenIsmail M. tödlich in den Kopf.
Was dagegen spricht: Erstens die Zeugenaussage des dritten zum Dienst eingeteilten Rekruten, der sich sofort nach dem Schuss zu Ali Ü. umdrehte und ihn aufrecht stehend neben dem Toten sah. So schnell kann sich der Angeklagte samt Gewehr kaum vom Boden aufgerappelt haben.
Zweitens spricht das Gutachten des Schießsachverständigen Manuel Fließ dagegen: Erst ab einer Fallhöhe von 125 cm kann sich dasStG77– unterUmständen – selbsttätig laden. Dazu müsste der relativ kleine Ali Ü. dasGewehrextraindieHöhe gehalten und dann fallen gelassen haben.
Fallversuche
Der Ballistiker fand allerdings „keinen Hinweis, dass sich der Schuss ohne besonderes Zutun (also von selbst, Anm.) gelöst haben kann.“Er führte mehrere Versuche durch, erst wenn die Waffe aus 1,5 m Höhe senkrecht auf dem Boden aufschlägt, lädt sie sich – jedes Mal – selbstnach. Rutschtsieeinem in Schräglage aus der Hand, passiert das nicht. Außerdem zeigten sich in jenen Fällen, in denen das Gewehr durch den Aufprall ohne Zutun geladen wurde, beim anschließenden Abfeuern charakteristische feine Längsrillen auf den Patronenhülsen. Bei regulär geladener Munition ergeben sich diese nicht. Der Gutachter folgert, dass der Angeklagte die Waffe vor Betreten des Wachcontainers aktiv geladen und entsichert hat.
Der Gerichtsmediziner Daniele Risser erklärte, dass Ismail M. – in Bauchlage auf einer Pritsche im Ruheraum liegend–an einem„ relativen Nah schuss“gestorben ist. Direkt am Kopf angesetzt war das Gewehr nicht. „Der Schädel war regelrecht aufgeplatzt. Ein klassischer glatter Durchschuss“, ging Risser noch ins Detail. Die genaue Position des Schützen ließ sich nicht mehr rekonstruieren.
Bei der Strafbemessung fiel die Unbescholtenheit des Schützen mildernd ins Gewicht. Erschwerendwar, dass der getötete 20- Jährige keine Möglichkeit hatte, den Angriff abzuwehren. VerteidigerManfred Ar bach er-Stög er (Kanzlei Rifaat) meldete Nichtigkeits beschwerde und Berufung an. Das Urteil ist damit nicht rechtskräftig.