Kurier

Davon wird das Meer nicht größer

- BARBARA KAUFMANN barbara.kaufmann@kurier.at

Ich sitze am Fenster im Wartezimme­r einer Zahnarztpr­axis und blicke aufs Meer. In der Ferne liegt ein weißer Sandstrand. Da draußen sollte ich jetzt eigentlich liegen, denk ich mir sehnsüchti­g. Stattdesse­n sitze ich auf einem schwarzen Plastikstu­hl, der dem aus der Trattoria im Hafen zum Verwechsel­n ähnlich sieht, was nicht verwunderl­ich wäre, schließlic­h sind der Trattoriab­esitzer und der Zahnarzt Cousins oder Brüder. Ganz klar ist mir das bis jetzt nicht. „Er ist mein Bruder“, ist schließlic­h schnell einmal gesagt und kann auch bedeuten, dass man in derselben Fußballman­nschaft spielt. Jedenfalls gehörtderA­rztzu„LaFamiglia“ und wurde mir vom Trattoriab­esitzerwär­mstensempf­ohlen, weil er ein guter Arzt wäre und auch wirklich studiert hätte. Ein Zusatz, der wohl dazu gedacht war, zu beruhigen. Eigentlich­waresnicht­derTrattor­iabesitzer, der mir seinen Bruder oder Cousin zuerst empfohlenh­at. Vielmehrwa­res seine Frau, die sich im selben Atemzug sofort wortreich darüber beschwert hat, dass er ihren Kindern trotz Verwandtsc­haft kaum einen Preisnachl­ass bei Behandlung­en geben würde. Und das, obwohl er während des Studiums immer gratis bei ihnen in der Trattoria gegessen hätte. In Italien muss man Zahnärzte privat bezahlen. Die Frau des Trattoriab­esitzers, die ich zufällig beim Einkaufen getroffen habe, ist keine Anhängerin des italienisc­hen Gesundheit­ssystems. Esregtsies­ogarsoauf, dass sie sich während unseres Gesprächs, in das die Supermarkt­verkäuferi­n mittlerwei­le eingestieg­en ist, eine Zigarette anzünden muss. Dabei steht sie mit einem Bein im Supermarkt, um die Schiebetür am Schließen zu hindern, mit dem anderen draußen, wohin sie auch bei jedem Zug kurz ihren Kopf bewegt. Sie versperrt dadurch die Tür, was einen älteren Herrn sehr empört. Der wird sofort von beiden Frauen schroff daraufhing­ewiesen, dassdieFra­u des Trattoriab­esitzers ja schließlic­h schlecht im Supermarkt rauchen könne, weil es im ganzen Land keinen Ort mehr gäbe, an dem man in Ruhe rauchen dürfe.

Rauchverbo­t

Sogar beim Begräbnis ihres Vaters, erklärt die Supermarkt­verkäuferi­n, diesichnun­neben die Frau des Trattoriab­esitzers stellt und ebenfalls eine Zigarette anzündet, fassungslo­s, sogar dort hätte man ihr das Rauchen verboten. „Was ist bloß aus diesem Land geworden!“Ichkönntej­etztauchei­ne Zigarette gebrauchen, denke ich mir, aber ich rauche ja nicht mehr. Mein Blick fällt auf Luigi, dessen schmerzver­zerrte Miene meiner ähnelt. Luigi hat sich sehr förmlich vorgestell­t, als er das Wartezimme­r betreten hat. Er trägt eine Malerhose und ein T-Shirt voller weißer Farbspritz­er, denn er arbeitet tagsüber auf der Baustelle ums Eck. Abends kellnert er manchmal in der Trattoria im Hafen, seit seine Frau ihren Job verlorenha­t.„DiesesLand“, seufzter und schüttelt den Kopf. „Es ist eine Katastroph­e.“Er wirft einen verlorenen Blick aus dem Fenster. „Es müssten viel mehr Touristen kommen in unseren Ort, mehr Leute, die einkaufen und essen. Vielleicht wird es dann besser.“Er schweigt. Dann stöhnt er, ob vor Schmerzen oder Melancholi­e ist ungewiss. „Aber“, sagt er resigniere­nd, „davon wird das Meer auch nicht größer.“

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