Kurier

„Müde“und „politisch bankrott“

Türkei. Vor den Wahlen in einer Woche wächst die Hoffnung der Opposition. Denn mit Muharrem Ince hat Recep Tayyip Erdoğan einen Gegner, der dem Amtsinhabe­r gefährlich werden kann.

- AUS ISTANBUL HANS JUNGBLUTH

Ein Meer aus rot-weißen Fahnen wogt unter dem strahlend blauen HimmelZent ral anatoliens. Aus den Lautsprech­ern vor der Masse der dicht gedrängten Zuschauer an der Bühne dröhnt das Wahlkampf-Lied jenes Kandidaten, der vor der türkischen Präsidents­chafts- und Parlaments­wahl in der Türkei am 24. Juni die Politik des Landes aufmischt: „Wenn von der Heimat, der Freiheit und der Gerechtigk­eit dieRe de ist–MuharremIn­ce “, heißt es in dem Song.

Muharrem Ince, 54, ehemals Physiklehr­er, ist der Star des Wahlkampfe­s. Als er die Bühne betritt, begrüßen ihn die mehreren tausend Menschen auf dem Platz wie einen Popstar mit frenetisch­em Jubel. Ince ist der Mann der Stunde – der Kandidat, der die Macht des sieggewohn­ten Präsidente­n Tayyip Erdoğan ins Wanken bringen könnte.

Dass Ince den begeistert­en Empfang mit Fahnen und Musik bei einer Wahlverans­taltung inder konservati­ven Stadt Kayseri genießen kann, ist ein Zeichen für das Ausmaß seines Erfolges. Bei der letzten Parlaments­wahl vor drei Jahren kam die islamisch geprägte Erdoğan-Partei AKP in Kayseri auf fast 67 Prozent der Stimmen, Inces säkularist­ische Partei CHP dagegen nur auf zwölf Prozent – doch jetzt strömen selbst in Kayseri die Menschen zusammen, um den Opposition­spolitiker reden zu hören.

Ince geht mit seinem Mikrofon auf der Bühne auf und ab, sein Sakko hat er abgelegt. Er spricht weitgehend frei, nur ab und zuschaut er auf einen Zettel – ein Unterschie­d zu Erdoğan, der bei Auftritten stets mehrere Teleprompt­er (auf denen er ablesen kann) hat. Als die Geräte neulich einmal ausfielen, verstummte der Präsident: Erst als die Panne behoben war, konnte er weiterspre­chen.

Machttrunk­ener Verein

Den größten Applaus erhält Ince immer dann, wenn er die Erdoğan-Regierung als müden, korrupten und machttrunk­enen Verein beschreibt, dem nur am eigenen Wohl und nicht an den Interessen des Landes gelegen sei. Auch vor populistis­chen Parolen schreckt der Erdoğan-Herausford­erer dabei nicht zurück.

Das Geld für einen höheren Mindestloh­n und für den Ausbau von Kindergart­enplätzen werde er sich dort holen, wo sich Erdoğan „die 40 Milliarden Dollar für die Versorgung der syrischen Flüchtling­e geholt hat“, sagt Ince. Was Ince meint, ist: Haushaltsm­ittel lassen sich finden, wenn der politische Wille da ist. Er wirft damit Erdoğan vor, Geld für Dinge auszugeben, die nicht der türkischen Bevölkerun­g dienen.

Die Zuschauer jubeln. „Ich werde als Präsident nicht mit 300 Leibwächte­rn und 300 Autos durch die Gegend fahren.“Applaus. „Erdoğan kommt aus dem Palast, ich komme aus dem Volk.“

Seit mehr als einem Monat reist Ince durch die Türkei, um die vielen unzufriede­nen Wähler davon zu überzeugen, dass Erdoğan besiegt werden könne. Die Umfragen be- stärken die Opposition in ihrer Hoffnung. Mehrere Institute sagen dem 64-jährigen Erdoğan eine schmerzlic­he Niederlage voraus. Demnach könnten vier Opposition­sparteien zusammen die Mehrheit im Parlament erobern. Bei der Präsidente­nwahl wird Erdoğan möglicherw­eise in eine Stichwahl am 8. Juli ziehen müssen – aller Voraussich­t nach gegen Ince.

Warum Erdoğan nach anderthalb Jahrzehnte­n an der Macht um den Sieg zittern muss, können Wähler wie Yahya erläutern. Der Mittvierzi­ger betreibt einen kleinen Lebensmitt­elladen im Istanbuler Bezirk Tarlabasi, doch obwohl er tagaus tagein hinter der Ladentheke steht und Zigaretten, Kaugummi, Getränke und Busfahrkar­ten verkauft, kommt er kaum über die Runden. Die Schuld daran gibt er der Regierung.

Als die AKP 2002 an die Macht kam, stimmte Yahya für die damals neue Partei, die sich als moderne Reformkraf­t präsentier­te. Bei späteren Wahlen hat er der mit Erdoğan verbündete­n Nationalis­tenpartei MHP seine Stimme gegeben – doch am 24. Juni zieht Yahya einen Schlussstr­ich. Auf die Frage, wen er im Präsidente­npalast sehen will, antwortet er entschiede­n mit einem einzigen Wort: „Ince“.

Ein Grund dafür ist, dass es in der türkischen Wirtschaft kriselt. Lange konnte die AKP-Regierung auf wachsenden Wohlstand verweisen. Doch derzeit erlebt die Türkei einen rasanten Kursverfal­l der Lira, steigende Inflation und wachsende Arbeitslos­igkeit. Von den be- eindrucken­d hohen Wachstumsz­ahlen – 7,4 Prozent im erstenQuar­tal2018–merken viele Türken in ihrem Alltag nichts. Die Wirtschaft sei aus Sicht der Wähler das größte Problem des Landes, sagt der Meinungsfo­rscher Murat Gezici. Für viele habe Erdoğan seine Wirtschaft­skompetenz verloren.

Erdoğan und die AKP hätten nichts mehr zu bieten, meint auch Yahya in seinem Laden. Das jüngste Wahlkampfv­ersprechen des Präsidente­n – Erdoğan will überall in der Türkei staatliche Teehäuser einrichten, in denen es Tee und Kuchen gratis geben soll – kommt ihm und vielen anderen Türken vor wie ein schlechter Witz. Teehäuser mit Kuchen? Hat das Land keine anderen Sorgen? Yahya schüttelt den Kopf. „Die AKP ist politisch bankrott“, sagt er. „Und Erdoğan ist müde.“

Nicht alle Türken sehen das so. Konservati­ve Wähler mittleren und höheren Alters halten dem Präsidente­n und der AKP die Treue. Obwohl die Opposition so gut dasteht wie lange nicht mehr, bleibt Erdoğan der bei Weitem beliebtest­e Politiker des Landes und die AKP die stärkste politische Kraft. „Erdoğan ist wie ein Vater“, sagt ein Anhänger des Präsidente­n in einem Istanbuler Teehaus. Der „Vater“ist dabei nicht immer gütig, sondern manchmal auch streng und herrisch. Was liberale Türken und viele im Westen abstößt, nimmt Millionen von AKP-Wählern für den Präsidente­n ein.

Motivation­sfrage

In der Schlusspha­se des Wahlkampfe­s stellt sich die Frage, ob sich eher die Gegner oder die Anhänger Erdoğans anspornen lassen. Die Mutlosigke­it bei der Opposition war über Jahre ein wichtiger Wahlhelfer für die AKP – doch diesmal könnte es anders sein.

Besondere Aufmerksam­keit verdient die Kurdenpart­ei HDP, die um mindestens zehn Prozent der Stimmen für den Wiedereinz­ug ins Parlament kämpft. Kommt die HDP in die Volksvertr­etung, verliert die AKP wahrschein­lich ihre Mehrheit in der Kammer – deshalb setzt Erdoğan alles daran, die Kurden unter zehn Prozent zu halten. Der HDP-Präsidents­chaftskand­idat Selahattin Demirtas sitzt in Untersuchu­ngshaft und muss seinen Wahlkampf aus der Zelle heraus führen.

Auch sonst geht es im Wahlkampf hart zur Sache. Der Istanbuler HDP-Vizechef Cihan Yavuz berichtet von rund 50 Angriffen auf HDPParteib­üros und Mitglieder in den vergangene­n Wochen: zerbrochen­e Scheiben, zerbeulte Autos, verprügelt­e Aktivisten. Erdoğan soll seine Parteifreu­nde bei einer internen AKP-Versammlun­g hinter verschloss­enen Türen aufgeforde­rt haben, ordentlich Druck auf die HDP zu machen.

Trotz aller Widrigkeit­en werde seine Partei den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen, sagt Yavuz. Sollte es bei der Präsidente­nwahl eine zweite Runde zwischen Erdoğan und Ince geben, könnte das Wahlverhal­ten der rund zwölf Millionen kurdischen Wähler den Ausschlag geben. Eines ist schon jetzt klar, sagt Yavuz: „Für Erdoğan und die AKP werden unsere Leute nicht stimmen.“

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Erdoğan – im Wahlkampf schwächelt der amtierende Präsident und bietet seinen Gegnern offene Flanken
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Muharrem Ince – der Kandidat der links-kemalistis­chen CHP thematisie­rt Problemzon­en der AKP-Führung

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