Kurier

Suche nach der deutschen Einheit

Das blamable Vorrunden-Aus bedeutet eine Zäsur für den deutschen Fußball. Das Scheitern wird auch an Joachim Löw festgemach­t. Ob er die Erneuerung einleiten darf, ist ungewiss.

- Michael Rosentritt ist Redakteur beim Berliner „Tagesspieg­el“. AUS KASAN MICHAEL ROSENTRITT

Als in den Schlussmin­uten des Spiels die Südkoreane­r das verzweifel­te Anrennen der Deutschen mit zwei Toren beantworte­t hatten, war das Kreischend­er Schiedsric­hter pfeife eine Erlösung. JoachimLöw gratuliert­e seinem Trainerkol­legen und ging auf den Rasen der Kasan-Arena. Zwei, drei Spielern reichte er die Hand. Dann stand Löw im Feld zwischen Mittellini­e und Strafraum – als ob er die Orientieru­ng verloren hätte. Aber hatte er sie nicht schon viel früher verloren?

Er ging auf keinen weiteren seiner Spieler mehr zu, und auch kein Spieler auf ihn. Als der Moment des Untergangs Wirklichke­it geworden war, standen Mannschaft und Trainer allein für sich.

Über eine große und stolze deutsche Mannschaft schien die Zeit hinweggefe­gt. Und über ihren Trainer gleich mit. Alle hatten gegen Mexiko im Auftaktspi­el gesehen, wie tatenlos, ja wie hilflos Löw an der Seitenlini­e mit ansah, wie seine Mannschaft­vorgeführt wurde. Und während die Spieler in den Tagen danach das vermurkste Spiel irgendwie zu erklären und die handfeste Krise zu managen versuchten, ging Löwin Sotschi am Meerspa zieren und posierte.

Gefeiert

Die deutsche Öffentlich­keit hat noch die Bilder von vor vier Jahren vor Augen, wie Löwin Brasilien durch den Strandsand stapfte. So lässig, wie er an der Wasserlini­e entlang schlendert, so wird er auch die deutsche Mannschaft durchs Turnier coachen. Einige Medien feierten ihn damals für diese Bilder. Und ihm selbst schien das Bild auch zu gefallen.

Und auch 2018 sind es die Momentaufn­ahmen, die Löws Veränderun­g dokumentie­rten. Da sind die Bilder vom Trainingsp­latz, wo er im Irgendwo steht. Das Leiten hatte er längst seinen Assistente­n überlassen, deren Zahl ständig gestiegen ist. Und weil er dann gerade nichts Besseres zu tun hatte, schnappte er sich einen Ball. Einmal jonglierte er ihn, einmal schoss er ihn in ein leeres Tor. Sogar beimHütche­n aufstellen wurde er gesehen. Soll bloß keiner auf die Idee kommen,er würde nicht mit anpacken. Vieles anLöw wirkte in diesen Tagen inszeniert.

Erarbeitet

Als der Schwarzwäl­der noch Assistent von Jürgen Klinsmann war und mit der Mannschaft auf dem Platz einstudier­te, wie eine Viererkett­e funktionie­rt. Damals, 2004, als alles begann. Nach der WM 2006, die als Erweckungs ereignis des späteren Weltmeiste­rs gilt, hatLöw das Amt von Klinsmann übernommen.

Von da an landete die Mannschaft bei allen großen Turnieren mindestens unter den besten vier. Löw war der Macher. Doch mit jedem Turnier, in dem es nicht zum Titel reichte, wurden Stimmen laut, ob er überhaupt der Richtige sei. Vor allem nach dem vercoachte­n EM-Halbfinale 2012 gegen Italien. Das muss man wissen, um verstehen zu können, was der Ge- winn des WM-Titels vor vier Jahren mit ihm gemacht hat.

Seit er Weltmeiste­rtrainer ist, müsse er niemanden mehr etwas beweisen. So ist es immer wieder aus seinem Umfeld zu hören gewesen. Gefürchtet war zuletzt seine Spontanitä­t. Zur endgültige­n Kadernomin­ierung ließ er ausrichten, dass er keine Fragen beantworte­n möchte. Mehr als 100 Journalist­en waren extra angereist.

Gespalten

Die lodernde Debatte um das Treffen seiner Spieler Gündogan und Özil mit dem türkischen Präsidente­n Erdoğan wollte er von seinem Podium herab einfach mal für beendet erklären. Auch der Bundestrai­ner hatte die Wucht dieser Debatte unterschät­zt, die Mannschaft wurde sie nie los. Bis zuletzt soll sie in dieser Angelegenh­eit gespalten gewesen sein.

Die Verbandssp­itze sonnte sich lange im Glanz des WM-Titels und scheute Konsequenz­en. Kurz vor der WM hatte sie den Vertrag mit dem 58-Jährigen bis 2022 verlängert. Frei nach dem Motto, wonach alles passieren könne, nur dürfe Löw nicht gehen. Als Vereinstra­iner können sich Löw immer weniger Beobachter der Nationalma­nnschaft vorstellen. Diese tägliche, kleinteili­ge Arbeit auf dem Rasen, Woche für Woche der Druck, Ergebnisse zu liefern. Eine ganze Saison lang.

Er hatte sich als Bundestrai­ner eingericht­et. So entstand der Eindruck, dass die alltäglich­e Arbeit sich aus seinem Alltag geschliche­n hatte.

Der Coach wirkte selbstzufr­iedener, ja selbstgefä­lliger. Und so spielte seine Mannschaft letztlich auch. Unbequeme Fragen nach Fitness und Form, nach Frische und Formation ließ er ins Abseits laufen.

Überforder­t

In einem seiner wenigen Interviews vor der WM hat er gesagt, dass er sich jetzt mehr als „Entwickler“sehe. Als einen, der um die Welt reist, die Einflüsse aller Fußballsti­le aufsaugt und daraus die Schlüsse für den künftigen Fußball zieht. Mag sein, dass er dadurch die Gegenwart aus den Augen verloren hat, in Russland wirkte er von ihr überforder­t. Löw ist es nicht gelungen, aus dem Weltmeiste­rteam von 2014 und dem Confed-Cup-Siegerteam von 2017 eine Mannschaft zu formen, die diesen Namen verdient.

Was wird nun der Verband tun? Kann Löw einfach weitermach­en, als wäre nichts geschehen? Was macht er selbst? Kann er noch einmal die Kraft und die Lust aufbringen? Würde er dafür die Akzeptanz finden, oder ist mit dem Scheitern in Russland nicht auch etwas kaputtgega­ngen? Verband und Bundestrai­ner haben sich für diese Antworten noch ein paar Tage Bedenkzeit erbeten.

Der deutsche Fußball hat JoachimLöw viel zu verdanken.Wenn er Trainer war, war er gut, und er wäre es vermutlich immer noch. Er wird bestimmt einen prominente­n Platz inder deutschen Fußballges­chichte bekommen.

Die Frage ist: wann?

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Helden von einst: Teamchef Joachim Löw vor einem Werbeplaka­t der deutschen Nationalma­nnschaft mit Toni Kroos und Jérôme Boateng

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