Wie es ist, in Stille zu leben
Eine Ausstellung lässt Hörende in die Welt gehörloser Menschen eintauchen und baut Unwissen ab
Alicia stampft zweimal fest mit ihrem Fuß am Boden auf, um sich bemerkbar zu machen. Sie will die Aufmerksamkeit der Ausstellungs besucher auf sich lenken, die große, geräusch schluckende Kopfhörer tragen und gebannt auf einen Bildschirm blicken. Alarmiert von der spürbaren Vibration am Boden, drehen sie sich um – und blicken verwirrt und schuldbewusst in die Richtung der Museumsführerin. Das Stampfen ist allerdings keinesfalls böse gemeint, sondern Teil der alltäglichen Kommunikation gehörloser Menschen.
Gehörlosigkeit ist nach wie vor ein gesellschaftliches Rand thema. Mangelndes Wissen und unzureichendes Bewusstsein tragen dazu bei, dass gehörlosen Menschen keine vollständige Inklusion zuteil wird. Stattdessen hemmen Vorurteile und Berührungsängste das selbstverständliche Miteinander. Strukturelle Barrieren blockieren Gehörlose dabei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Begegnungsräume
Genau hier setzt die Ausstellung „Hands Up“an, die seit kurzer Zeit in Wien für hörende Besucher geöffnet hat. Ins Leben gerufen wurde „Hands Up“von der österreichischen Bildungseinrichtung Equalizent, dem größten Kompetenzzentrum für gehörlose Menschen in Europa. „Wir wollen zeigen, wie es ist, gehörlos zu sein und Besucher im Umgang mit gehörlosen Menschen sensibilisieren, Vorurteile abbauen und ein gesellschaftliches Umdenken anregen“, erklärt Monika Haider, Geschäftsführerin von Equalizent.
In verschiedenen Räumen wurden Information und Know-how zum Thema Gehörlosigkeit gesammelt, gebündelt und interaktiv für hörende Gäste aufbereitet. So erfahren Besucher etwa, wie gehörlose Menschen kommunizieren, was Gebärdensprache ist, welche Hilfsmittel ihnen das Leben erleichtern und welchen Barrieren ihnen begegnen.
Gleich zu Beginn wird das hörende Publikum darüber aufgeklärt, dass Gebärden nicht mit Pantomime gleichzusetzen, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus Mimik, Gestik und Körperhaltung im Sinne der Verständigung sind. Davon abzugrenzen sind sogenannte transparente Gebärden, die auch von Menschen verstanden werden können, die keine Gebärdensprache beherrschen. Das Fingeralphabet, welches über die Grenzen eines Landes hinaus verständlich ist, macht wiederum eine internationale Kommunikation möglich. Wie wichtig eine eigene Sprache für Gehörlose ist und, dass diese auch in ihrer Umwelt Niederschlag findet, zeigt die Tatsache, dass über Lippenlesen allein nur etwa 30 Prozent des Sprachinhaltes verstanden werden kann. Den Rest müssen Gehörlose ergänzen und kombinieren.
Vibration statt Wecker
Ein weiterer Bereich der Ausstellung klärt über den Alltag gehörloser Menschen auf. Wie gehörlose Menschen beispielsweise morgens ihren Wecker „hören“, mag für Hörende mysteriös wirken – wird aber ganz praktisch vor Augen geführt: Statt einem lauten Klingeln wecken ein vibrierendes Polster und ein Gerät, das Lichtsignale aussendet. Babyfone zur akustischen Überwachung von Säuglingen sind für gehörlose Eltern ebenfalls nicht zu gebrauchen. Schreit das Baby, zeigt dies deshalb ein blinkendes Alarmzeichen an.
Obwohl Gehörlose ihr Leben durch entsprechende Hilfsmittel gut meistern können, gibt es Bereiche, wo ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Etwa bei Lautsprecherdurchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Amtsbesuchen oder beim Fernsehen.
Musik erspüren
Den Abschluss der Ausstellung bildet ein Raum, der Gehörlosenkultur thematisiert. Gezeigt wird, wie Literatur für Gehörlose aufbereitet wird, welchen Wandel die Gebärdensprache durchgemacht hat und welche herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte gehörlos waren und sind. Auch dem musikalischen Erleben ist ein Teilbereich gewidmet: Auf einer großen hölzernen Vibrationsplatte wird Jazz, Klassik und Hip-Hop spürbar gemacht. Das veranlasst die Hörenden sogar dazu, beschwingt – wenn auch schüchtern – mitzuwippen.
Zum Schluss sind nochmals alle Augen auf Alicia gerichtet. Sie bedankt sich mit einer schwungvollen Handbewegung, die von ihrem Kinn vor ihren Oberkörper führt – die Gebärde für das Wort „Danke“.