Zwanghaftes Sex-Verhalten ist eine Störung
Als „psychische Störung“will künftig die WHO sexuelles Zwangsverhalten einstufen
Sieben Orgasmen pro Woche über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten: So definierte der US-Sexforscher Alfred Kinsey 1948 Hypersexualität, also den krankhaften Drang nach Sex. Siebzig Jahre später hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2018 erstmals zwanghaftes Sexualverhalten als psychische Störung anerkannt und in ihren neuen Katalog für Krankheiten, ICD-11 (siehe rechts), aufgenommen. Die „Sucht“nach Sex stellt die WHO damit aber nicht auf eine Stufe mit einer Alkohol- oder Drogensucht – weil der Verlauf nicht vergleichbar sei.
„Der Unterschied ist, dass eine Alkoholoder Drogensucht stoffgebunden ist“, sagt Christina Raviola, Vorsitzende des Instituts für Klinische Sexualpsychologie und Verhaltenstherapie in Wien. Es sei überhaupt schwierig, eine allgemeine Definition für die Krankheit zu finden: „Sexuelle Sucht, egal in welcher Form, ist letztendlich ein Überbegriff, weil wir bis dato noch nicht genau wissen, wo wir diese einordnen sollen – als Zwang oder als Persönlichkeitsproblem.“
Mehr Männer als Frauen
In Ländern wie Österreich leiden laut Raviola rund fünf Prozent der Bevölkerung unter dem sehr heterogenen Störungsbild der Hypersexualität, darunter mehr Männer als Frauen. Die WHO spricht von einem Betroffenen, wenn die Person „intensive, sich wiederholende sexuelle Impulse oder Triebe nicht kontrollieren kann und diese zu wiederholtem Sexualverhalten führen“. Wer à la Casanova oder Don Juan viele Sexualpartner hat, gilt demnach nicht automatisch als sexsüchtig. Auch nicht, wie oft jemand Geschlechts- verkehr hat, spielt laut WHO eine Rolle. Denn:
Mit einem lustvollen Liebesspiel hat dieses Verhalten nichts mehr zu tun. Von einem Zwang könne man erst sprechen, „wenn Sex zum zentralen Fokus wird und dadurch die eigene Gesundheit und Körperpflege, Interessen oder gar Verantwortlichkeiten vernachlässigt werden“. Warum sich bei manchen Menschen ein zwanghaftes Sexualverhalten entwickelt, sei unklar, sagt Raviola, „mit kriminellem Verhalten hat es aber nichts zu tun, das sind massive Persönlichkeitsstörungen“. Die Frage, ob eine Sexsucht Gewalttäter schuldunfähig machen könnte, kam während der #MeToo-Bewegung vermehrt auf. SogabunteranderemHarvey Weinstein an, wegen seiner Sexsucht in Therapie gewesen zu sein. Für Wolfgang Kostenwein, Psychologischer Leiter des Instituts für Sexualpädagogik, hat kriminelles Verhalten nichts mit einer solchen Sucht zu tun: „Nach wie vor ist es ein Trugschluss, dass Triebtäter einen großen Sexualtrieb haben – es ist genau das Gegenteil. Bei Menschen, die straffällig geworden sind, ist die Tat häufig das Einzige, was in ihnen noch eine Erregung auslöst. Sie sind sehr eingeschränkt in ihrer Lust.“Zwar hätten auch Menschen, die unter einem zwanghaften Sexualverhalten leiden, wenig Zugang zu ihrer Lust, Kostenwein glaubt aber nicht, dass jemand plötzlich zum Straftäter wird: „Sexualität entwickelt sich, wie die Persönlichkeit, einganzesLebenlang. Es sind unterschiedliche Lernprozesse, das Verhalten kann nicht plötzlich kippen.“