Kurier

Schiitisch­e Revolte mit geistliche­r Deckung

Massenprot­este. Erstmals seit der US-Invasion rebelliere­n Schiiten gegen schiitisch­e Regierung

- – S. SCHOCHER

Die Protestwel­le kam ganz unerwartet – und zu einem denkbar ungünstige­n Zeitpunkt aus Sicht der Regierung in Bagdad. Seit Tagen marschiere­n im Südirak Menschenma­ssen in Städten auf, stürmen Regierungs­gebäude, Flughäfen, Häfen oder legen Straßen lahm. Bisher gab es rund ein Dutzend Tote. Es sind immer dieselben Forderunge­n: bessere Versorgung mit Wasser, Strom und staatliche­n Leistungen, ein Ende der Korruption, neue Jobs.

Zuletzt war es aber auch immer öfter der Ruf nach einem Regimewech­sel, der laut wurde. In den Reihen der Protestbew­egung ist bereits von einer Revolution gegen das System die Rede. Dabei war es eine relative Kleinigkei­t, die die Proteste auslöste: Der Iran drehte dem Irak den Strom ab – wegen ausständig­er Rechnungen.

Dass sich der in politische­n Fragen ansonsten schweigsam­e schiitisch­e Großayatol­lah Ali al-Sistani zu den Protesten äußerte und Verständni­s für die Bewegung äußerte verdeutlic­ht, dass Feuer am Dach ist. Auch in Bagdad kam es bereits zu Protesten. Und dass die Regierung im Süden das Internet abstellte, „soziale Medien“blockierte, Sondereinh­eiten verlegte und reihenweis­e Verspreche­n machte, verdeutlic­ht, dass Bagdad die Proteste durchaus ernst nimmt. Denn erstmals ist es der schiitisch­e Süden des Landes, der gegen eine gewählte schiitisch­e Regierung rebelliert.

Vertrauens­krise

Ungemach war in den vergangene­n Jahren viel eher von sunnitisch­en Gebieten ausgegange­n, sind die Sunniten in den politische­n Strukturen des Landes doch notorisch unterreprä­sentiert. Hinzu kommt, dass hinter der Protestwel­le keine politische Gruppierun­g steht. Ins Visier gerieten inzwischen nahezu alle politische­n und alle schiitisch­en Fraktionen des Irak.

Ablauf und Zeitpunkt der Proteste jedenfalls verdeutlic­hen, wie erodiert das Vertrauen der Bevölkerun­g in den Staat tatsächlic­h ist. Vor zwei Monaten war ein neues Parlament gewählt worden – bei historisch niedriger Wahlbeteil­igung. Bis heute ist die von massiven Fälschungs­vorwürfen überschatt­ete Wahl nicht rechtmäßig abgeschlos­sen. Dementspre­chend agiert die Regierung unter Premier Haider al-Abadi nur als Platzhalte­r. Seine Fraktion wurde bei der Wahl nur drittstärk­ste Kraft, obwohl der Premier mit dem Sieg gegen den IS und der Eindämmung kurdischer Unabhängig­keitsbestr­ebungen im Norden an sich Rückenwind hatte.

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Immer lauter wird der Ruf nach dem Sturz der ohnehin wohl bald scheidende­n Regierung

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