Kurier

„Eine Ausrede für kriminelle­s Verhalten ist das sicher nicht“

Nachgefrag­t. Renommiert­er Gerichtsps­ychiater sieht WHO-Einstufung positiv. Dass die WHO eine Klassifizi­erung als „Sexsucht“vermied, sei richtig

- – ERNST MAURITZ

Univ.-Prof. Reinhard Haller ist Gerichtsps­ychiater und Suchtthera­peut.

KURIER: Wie beurteilen Sie die Einstufung der WHO von zwanghafte­m Sexualverh­alten als psychische Störung? Reinhard Haller:

Das finde ich richtig in dieser Form. Es gibt unzweifelh­aft einen gewissen Prozentsat­z in der Bevölkerun­g – ich würde ihn mit einem, maximal zwei Prozent beziffern –, bei dem man von einer solchen Störung im Bereich der Sexualität sprechen muss. Das ist auch etwas anvon deres als ein massiv gesteigert­es sexuelles Verlangen. Die Betroffene­n empfinden keine wirkliche Lust mehr, sondern sind sehr unglücklic­h und werden oft depressiv.

Ab wann ist es eine Störung?

Wenn es einen Leidensdru­ck gibt: Wenn der Betroffene – oder auch sein Partner – darunter massiv leidet, dem Zwang völlig ausgeliefe­rt ist, dadurch in seinem Leben eingeengt ist und mehr und mehr in Isolation gerät und letztlich vereinsamt. Das an einer bestimmten Häufigkeit Sexualkont­akten, Masturbati­on oder Pornografi­ekonsum festzumach­en, wie das früher geschah, finde ich keinen guten Ansatz. Es geht immer um die Leidensgre­nze – die ist entscheide­nd. Die beste Therapie ist dann innerhalb der Psychother­apieverfah­ren die Verhaltens­therapie: Mit einer Verhaltens­änderung soll man andere Möglichkei­ten finden, um mit diesen zwanghafte­n Impulsen fertig zu werden. Medikament­e haben eine gewisse Berechtigu­ng, können das Problem aber nicht lösen.

Die WHO hat eine Einstufung eines solchen Verhaltens als „Sucht“vermieden, sie spricht also nicht von „Sexsucht“.

Damit gehe ich konform. Sucht setzt aus meiner Sicht immer ein Rauschverh­alten voraus, dass man also durch eine Substanz oder auch eine Verhaltens­weise in einen rauscharti­gen Zustand kommt. Das ist bei der Sexsucht aber in dieser Form nicht möglich. Und man soll den Begriff „Sucht“nicht inflationä­r verwenden. Wenn alles eine Sucht ist, wird damit der Tragik des eigentlich­en Krankheits­bildes nicht Rechnung getragen. Denn zwischen einem solchen zwanghafte­n Sexualverh­alten und einer Heroinabhä­ngigkeit ist schon ein gewisser Unterschie­d.

Kann die Einstufung als psychische Störung eine „Entschuldi­gung“für sexuellen Missbrauch oder Vergewalti­gung sein?

Auf keinen Fall! Schuldunfä­higkeit und Zurechnung­sunfähigke­it gibt es nur bei außerorden­tlich schweren psychische­n Störungen – das betrifft nur einen kleinen Teil aller psychiatri­schen Störungsbi­lder und nur einen kleinen Teil der Bevölkerun­g. Eine Ausrede für kriminelle­s Verhalten ist eine solche psychische Störung im Bereich der zwanghafte­n Sexualität in der Regel sicher nicht.

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Haller ist auch Autor des Buches „Nie mehr süchtig sein“(Ecowin)

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