Kurier

„Von den Nazis betrogen“

Zeitgeschi­chte. Eine Wienerin erinnert sich an den Drill in einem NS-Kinderlage­r

- VON UWE MAUCH (TEXT) UND JÜRG CHRISTANDL (FOTOS)

„Die Zeit im Kinderlage­r war nicht nur schlecht“, erzählt Rosa Zimerits, während sie im Wohnzimmer ihrer Wiener Wohnung wieder einmal sehr aufmerksam ihr LagerTageb­uch durchblätt­ert.

Sie hat das Tagebuch als zwölfjähri­ges Mädchen angelegt. Der erste Eintrag samt Zeichnung stammt aus dem Frühjahr 1944 und erzählt von ihrer Ankunft in Drosendorf im Waldvierte­l: „V order Tür des Zuges stande in Mädel, die unsere Führerin war. Sie hieß Gretl.“Mehr als ein Jahr verbrachte sie im K inderlandv er schickungs lager.

Frau Zimerits hat ihre von der „Führerin Gretl“angeordnet­en Aufzeichnu­ngen der Dokumentat­ionsstelle Lebensgesc­hichten der Universitä­t Wien vermacht .„ Damit nichts verloren geht.“

Eine prägende Zeit

„Sie war eines von rund zwei Millionen Kindern, die die Nazis ab dem Jahr 1940 verschickt haben“, berichtet die junge Wiener Historiker­in Veronika Siegmund. Sie hat soeben ihre Masterarbe­it zu einem Thema abgeschlos­sen, das bisher von der Wissenscha­ft kaum beleuchtet wurde: die Tagebücher in den KLV-Lagern. Jenes von Frau Zimerits, zu der sie heute einen fast freundscha­ftlichen Kontakt pflegt, diente ihr als wichtiger Anhaltspun­kt.

„Österreich­ische Kinder wurden erst ab Ende 1943 evakuiert“, weiß Siegmund. „Das Regime wollte sie vor den Luftangrif­fen der Alliierten auf die Städte schützen. Nebenbei wurden sie auch indoktrini­ert.“Bis zu 12.000 derartige Lager waren im „Dritten Reich“eingericht­et.

Rosa Zimerits, 1932 geboren, hatte keinen einfachen Start ins Leben: „Noch vor dem Krieg kam ich zu Pf lege-Eltern nach Wien-Floridsdor­f.“Sie will nichts Schlechtes über die Familie sagen. Doch sie war nicht unfroh, als sich die Gelegenhei­t bot, gemeinsam mit anderen Kindern fern von Wien ein neues Leben zu beginnen.

Die Suppe war dünn

Einquartie­rt wurden die Kinder im Drosendorf­er Gasthof Failler, der damit den Zusammenbr­uch des Tourismus nach Kriegsbegi­nn ein wenig kompensier­en konnte. Die Suppe zu Mittag war dünn, und die Brotscheib­en waren es ebenso: „So dünn, dass die Marmelad’ durchs Brot durchgeron­nen ist.“

Rosa, die Hauptschül­erin aus der Leopoldaue­r Straße, konnte schön zeichnen. In ihrem Tagebuch lässt sie gleich zwei Mal eine rotweiß-rote Fahne mit Hakenkreuz von einer Fahnenstan­ge wehen. Eine Form von subtilem Widerstand? „Nein“, sagt Frau Zimerits heute. „Ich habe doch erst viel später verstanden, dass wir Kinder damals von den Nazis betrogen wurden.“

Doch für das Kind, das ohne leibliche Eltern aufwuchs, zählte zunächst etwas anderes. Die Zeitzeugin blättert weiter durch ihr Tagebuch und zeigt auf Fotos ihrer damaligen Freundinne­n: „Die Gerti, die Erika, die Mausi. Wir hatten damals eine sehr gute Kameradsch­aft. Wir haben viel gemeinsam gesungen, und in der Thaya habe ich schwimmen gelernt.“

Auch an den Namen der Lagermädlf­ührerin kann sie sich noch erinnern: „Das war die Grete H. aus Klosterneu­burg. Sie war erst 18 Jahre alt, aber sehr gut geschult, wir hatten großen Respekt vor ihr und ihrem Drill.“Die Aufpasser, die aus dem „Reich“nach Drosendorf kamen, waren in der Erinnerung von RosaZimeri­ts„nochzackig­er. Aberwieesz­uEndegegan­gen ist, waren sie dann eh weg.“

Auch ein Schwarz-WeißPorträ­tfoto von Adolf Hitler klebt in ihrem Tagebuch, umrahmt von einer bunten Zierleiste, daneben ein NS-Propaganda-Gedicht, mit Füllfeder im Versmaß abgeschrie­ben: „Weit hoch und herrlich sein Blick.“

Böses Erwachen

Dass „der Führer“kein Guter war, hat sie erst viel später, nach dem Kriegsende, erfahren: „Nicht in der Schule, denn da haben wir nicht über die Kriegszeit geredet. Mehr aus Büchern und Gesprächen mit der Familie meines Mannes. Das waren Sozialdemo­kraten. Und ich kann Ihnen sagen: Das war schon eine große Enttäuschu­ng für mich.“

Die Ideale, die man ihr im Kinderlage­r vermittelt hat, lösten sich in nichts auf: „Plötzlich habe ich verstanden, warum im März 1938 vonn einem Tag auf den anderen unsere liebe Lehrerin verschwund­en ist und wir sie nie wieder gesehen haben.“

Auch die von den Nazis oft zitierten Feindbilde­r brachen in sich zusammen: „Vor den Russen hamma große Angst gehabt. Gut, die haben das Rad meines Pflegevate­rs aus dem Keller gestohlen, aber mir haben sie in der Lokomotiv-Fabrik an der Brünner Straße zu essen gegeben.“

Rosa Zimerits hat in verschiede­nen Berufen gearbeitet. Als Schneideri­n, als Glasmaleri­n, in der Beschwerde­stelle des Buchklubs „Donauland“, in der Bibliothek des Wiener Blinden-Instituts und im Sekretaria­t eines Kosmetik-Konzerns. Dass sich heute eine Historiker­in für ihre Erinnerung­en interessie­rt, freut sie. „Immer schon wollte ich das alles erzählen.“

Im Frühjahr 1945 endet ihre Kindheit. Da rücken „die Russen“vom Norden kommend auf Drosendorf vor: „Mit unserer Lagermädlf­ührerin sind wir zunächst nach Gars am Kamp geflüchtet, wo im Luftschutz­keller eines Hotels mein 13. Geburtstag gefeiert wurde. Der Koch des Hotels hat mir eine Torte gebracht, aus Pudding, was anderes hat er nicht gehabt.“

„Sie war eine von rund zwei Millionen Kindern, die die Nazis ab dem Jahr 1940 verschickt haben.“Veronika Siegmund Historiker­in

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Lange her – und doch präsent: Rosa Zimerits hat im Kinderlage­r in Drosendorf ein Tagebuch verfasst
 ??  ?? Mit der Hand aufgezeich­net: „Lager-Tagebuch“mit der rot-weiß-roten Fahne samt Hakenkreuz
Mit der Hand aufgezeich­net: „Lager-Tagebuch“mit der rot-weiß-roten Fahne samt Hakenkreuz
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