Kurier

Auch ohne Sondervoll­macht fast allmächtig

Türkei unter Erdoğan. Trotz des Endes des Ausnahmezu­standes kann der Präsident weiterhin fast schrankenl­os regieren.

- AUS ISTANBUL HANS JUNGBLUTH

Als die türkische Regierung nach dem Putschvers­uch 2016 den Ausnahmezu­stand verhängte, begann eine neue Ära: Grundrecht­e wurden eingeschrä­nkt, mehrere Wellen von Massenentl­assungen und -verhaftung­en rollten über das Land. Das Ende des Ausnahmezu­standes in der Nacht auf heute wird am Status quo aber kaum etwas verändern. Denn Präsident Recep Tayyip Erdoğan sorgt dafür, dass wesentlich­e Regelungen in die Terrorgese­tzgebung übernommen werden. Auf diese Weise solle der Ausnahmezu­stand gleichsam legalisier­t werden, klagt die Opposition. Viel Gehör findet sie jedoch nicht damit.

Erdoğan baut die Republikwe­iterum.Wiedasfunk­tioniert, zeigen die Karrieren von Abdurrahma­n Orkun Dag und Hulusi Pur. Die Richter am Istanbuler Schwurgeri­cht haben sich einen Namen als gnadenlose Gegner von beschuldig­ten Journalist­en und Intellektu­ellen gemacht. Dag verurteilt­e im April mehr als ein Dutzend Mitarbeite­r der Opposition­szeitung Cumhuriyet

zu mehrjährig­en Haftstrafe­n, Pur leitete 2013 den Prozess gegen den regierungs­kritischen Pianisten Fazil Say, in dem dieser wegen Volksverhe­tzung zu einer zehnmonati­gen Bewährungs­strafe verurteilt wurde. Jüngst wurden die beiden Juristen befördert und zu Richtern am Berufungsg­erichtshof in Ankara ernannt.

Massenentl­assungen

Das nach der Wahl im Juni eingeführt­e Präsidials­ystem gibt Erdoğan fast uneingesch­ränkte Macht über den Staatsappa­rat und die Politik der Türkei. Während des Ausnahmezu­stands wurden rund 160.000 Beamte, Soldaten und Polizisten entlassen, denen aus Sicht der Regierung nicht zu trauen war. Auch nach der offizielle­n Rückkehr zur Normalität sollen Massenentl­assungen möglich bleiben: Ein Gesetzespa­ket, über das möglicherw­eise schon kommende Woche im Parlament abgestimmt wird, schreibt das Recht der Behörden zur Entfernung von Beamten aus dem Staatsdien­st wegen Terrorverd­achts fest. Der Terror-Begriff wird in der Türkei sehr weit gefasst;häufiggenü­gtbereitsd­er Vorwurf einer Mitgliedsc­haft in der Bewegung des Predigers und Erdoğan-Intimfeind­es Fethullah Gülen.

Die vielen Entlassung­en haben in der Bürokratie teilweise große Löcher hinterlass­en. Um sie zu füllen, senkt Erdoğan per Präsidiald­ekret die Zugangsvor­aussetzung­en zu bestimmten Posten. Manchmal schießt das Präsidiala­mt allerdings weit über das Ziel hinaus. So hatte Erdoğan unter anderem verfügt, dass man in der Türkei nicht mehr Professor sein muss, um Rektor einer Universitä­t zu werden – diese Anordnung wurde inzwischen wieder zurückgeno­mmen. Bei einem anderen Präsidiald­ekret, das die Regel abschaffte, dass jeder Richter an einem Verwaltung­sgericht auch Jus studiert haben muss, steht die Korrektur noch aus.

Mit der Konzentrat­ion auf Erdoğan im neuen Präsidials­ystem verlieren die Fachmimen nisterien an Einfluss. Im diplomatis­chen Dienst etwa gilt ab sofort die Vorschrift, dass jeder Staatsbeam­te – gleich aus welcher Behörde – mit mindestens fünf Jahren Berufserfa­hrung zum Botschafte­r ernannt werden kann. Das Außenminis­terium sei fortan nur noch Ausführung­sbehörde und nicht mehr für die Ausarbeitu­ng außenpolit­ischer Positionen verantwort­lich, berichtete Cumhuriyet.

 ??  ?? Die neue Verfassung, die nach der Wahl in Kraft trat, legt Präsident Erdoğan, der nun auch Regierungs­chef ist, fast alle Macht in seine Hände
Die neue Verfassung, die nach der Wahl in Kraft trat, legt Präsident Erdoğan, der nun auch Regierungs­chef ist, fast alle Macht in seine Hände

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