„Sieht sich selbst beim Sterben zu“
Experte. Die perfide Wirkung von Nervengiften wie Nowitschok
Was genau ist Nowitschok? Was machen chemische Kampfstoffe – und wie kann man sich davor schützen?
Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Welche chemischen Waffen gibt es überhaupt?
Als Geburtsstunde der modernen Chemiewaffen gilt das Jahr 1915. Im Zuge eines deutschen Angriffs wurden bei Ypern 5000 Menschen mit Chlorgas getötet und Tausende verletzt. „Heute unterscheiden wir grundsätzlich vier Kategorien“, sagt Gerald Bauer, Chemiewaffen-Experte der ABC-Abwehrschule in Korneuburg: „Nerven-, Haut-, Blut- und Lungenkampfstoffe.“
Was genau passiert, wenn ? man mit Nervengas in Berührung kommt?
Nervengase gehören zum Abscheulichsten, was die menschliche Forschung hervorgebracht hat. Kampfstoffe wie Nowitschok, Sarin, Tabun oder Soman blockieren ein Entspannungsenzym. „Binnen Minuten überreizt der Körper“, sagt Bauer. Konkret heißt das: Die Muskeln verkrampfen, die Pupillen werden extrem klein, die Atmung versagt, und gleichzeitig beginnt der Betroffene unkontrolliert zu speicheln und zu schwitzen. Bauer: „Man ist gelähmt und sieht sich selbst beim Sterben zu.“
Sind chemische Kampfstoffe nicht verboten?
Ja. Seit 1997 gilt die Chemiewaffenkonvention, die weltweit die Herstellung, Lagerung und den Einsatz von chemischen Waffen verbietet. „Russland und die USA hatten allerdings so große Vorratslager, dass sie noch immer damit beschäftigt sind, die Bestände zu vernichten“, sagt Bauer.
Sind Chemiewaffen einfach herzustellen?
Nein. Denn in allen entwickelten Staaten unterliegen die wichtigsten Ausgangsstoffe scharfen Kontrollen. So dürfen Grundchemikalien zwar von der chemischen Industrie verwendet werden. Allerdings müssen die Betriebe genau dokumentieren, wofür sie welche Substanz und Menge verwenden. Für Gebiete wie Syrien gilt dieses Reglement laut Bauer nicht. „Hier sind die Grundbestandteile mitunter durchaus zu bekommen. Und insbesondere beim ,Islamischen Staat‘ kursieren Anleitungen, wie man Nervengas herstellt.“
Wie schützt man sich vor Chemiewaffen?
Grundsätzlich gilt: Atmung, Augen und Schleimhäute sollten sofort geschützt werden, im Idealfall die gesamte Haut. Akut werden Giftgasopfer unter anderem mit Atropin-Spritzen behandelt. Es bekämpft die Krämpfe. Wesentlich ist immer die Konzentration des Giftes. Beim Anschlag der Aum-Sekte 1995 in Tokio durchstachen die Täter in voll besetzten U-Bahn-Zügen Plastiksäcke mit Sarin. Zwölf Menschen starben, aber die Zahl der Todesopfer blieb vergleichsweise gering, weil die Attentäter kein konzentriertes Gift zur Verfügung hatten. Bauer: „Beim Kampfstoff VX genügt ein Tropfen auf der Hand, um tödlich zu sein.“