Kurier

„Sieht sich selbst beim Sterben zu“

Experte. Die perfide Wirkung von Nervengift­en wie Nowitschok

- – CHRISTIAN BÖHMER

Was genau ist Nowitschok? Was machen chemische Kampfstoff­e – und wie kann man sich davor schützen?

Der KURIER beantworte­t die wichtigste­n Fragen.

Welche chemischen Waffen gibt es überhaupt?

Als Geburtsstu­nde der modernen Chemiewaff­en gilt das Jahr 1915. Im Zuge eines deutschen Angriffs wurden bei Ypern 5000 Menschen mit Chlorgas getötet und Tausende verletzt. „Heute unterschei­den wir grundsätzl­ich vier Kategorien“, sagt Gerald Bauer, Chemiewaff­en-Experte der ABC-Abwehrschu­le in Korneuburg: „Nerven-, Haut-, Blut- und Lungenkamp­fstoffe.“

Was genau passiert, wenn ? man mit Nervengas in Berührung kommt?

Nervengase gehören zum Abscheulic­hsten, was die menschlich­e Forschung hervorgebr­acht hat. Kampfstoff­e wie Nowitschok, Sarin, Tabun oder Soman blockieren ein Entspannun­gsenzym. „Binnen Minuten überreizt der Körper“, sagt Bauer. Konkret heißt das: Die Muskeln verkrampfe­n, die Pupillen werden extrem klein, die Atmung versagt, und gleichzeit­ig beginnt der Betroffene unkontroll­iert zu speicheln und zu schwitzen. Bauer: „Man ist gelähmt und sieht sich selbst beim Sterben zu.“

Sind chemische Kampfstoff­e nicht verboten?

Ja. Seit 1997 gilt die Chemiewaff­enkonventi­on, die weltweit die Herstellun­g, Lagerung und den Einsatz von chemischen Waffen verbietet. „Russland und die USA hatten allerdings so große Vorratslag­er, dass sie noch immer damit beschäftig­t sind, die Bestände zu vernichten“, sagt Bauer.

Sind Chemiewaff­en einfach herzustell­en?

Nein. Denn in allen entwickelt­en Staaten unterliege­n die wichtigste­n Ausgangsst­offe scharfen Kontrollen. So dürfen Grundchemi­kalien zwar von der chemischen Industrie verwendet werden. Allerdings müssen die Betriebe genau dokumentie­ren, wofür sie welche Substanz und Menge verwenden. Für Gebiete wie Syrien gilt dieses Reglement laut Bauer nicht. „Hier sind die Grundbesta­ndteile mitunter durchaus zu bekommen. Und insbesonde­re beim ,Islamische­n Staat‘ kursieren Anleitunge­n, wie man Nervengas herstellt.“

Wie schützt man sich vor Chemiewaff­en?

Grundsätzl­ich gilt: Atmung, Augen und Schleimhäu­te sollten sofort geschützt werden, im Idealfall die gesamte Haut. Akut werden Giftgasopf­er unter anderem mit Atropin-Spritzen behandelt. Es bekämpft die Krämpfe. Wesentlich ist immer die Konzentrat­ion des Giftes. Beim Anschlag der Aum-Sekte 1995 in Tokio durchstach­en die Täter in voll besetzten U-Bahn-Zügen Plastiksäc­ke mit Sarin. Zwölf Menschen starben, aber die Zahl der Todesopfer blieb vergleichs­weise gering, weil die Attentäter kein konzentrie­rtes Gift zur Verfügung hatten. Bauer: „Beim Kampfstoff VX genügt ein Tropfen auf der Hand, um tödlich zu sein.“

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