Kurier

„Die ganze Welt lässt uns im Stich“

50 Jahre Prager Frühling. Ex-KURIER-Reporterin Jana Patsch musste mitansehen, wie Sowjet-Panzer alle Hoffnungen auf Reformen in der ČSSR zermalmten. Wie viele andere kehrte sie ihrer Heimat den Rücken.

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I spricht mich ein Flugbeglei­ter

ch hoffe, Sie haben eine Waffe eingesteck­t“, auf der Strecke Athen-Prag leise an. „Warum sollte ich“, antworte ich etwas perplex. „Um Ihr Land zu verteidige­n“, insistiert der Mann. „Die Russen werden bei euch einmarschi­eren.“„Unsinn“, gebe ich mich zuversicht­lich. „Warum sollten sie? Wir wollen doch keinen Regimewech­sel, nur ein bisschen Liberalisi­erung – wie die neue Reisefreih­eit: Nur durch sie durfte ich jetzt nach Griechenla­nd f liegen.“

Es ist der 1. August 1968. In der Tschechosl­owakei hat die Führung der Kommunisti­schen Partei Demokratis­ierungssch­ritte eingeleite­t, die als „Prager Frühling“in die Geschichte eingehen sollten. Die Welt beobachtet mit einer Mischung aus Faszinatio­n und Zweifel, wie die Tschechen und Slowaken den Kommunismu­s zu reformiere­n versuchen. KPChef Alexander Dubček verkündet einen „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“und versetzt die Bevölkerun­g in einen Rauschzust­and der Begeisteru­ng. „Die Reformen gelingen. Wir werden freier leben!“

Sowjetisch­e Propaganda

Drei Wochen später, in der Nacht auf den 21. August, platzt der Traum. In Bratislava ist es brütend heiß. Alle Fenster stehen offen. Plötzlich zerreißen Fluglärm und das Rattern von Schwerfahr­zeugen die Stille. Ich schrecke auf, schalte sofort das Radio ein. Smetanas „Moldau“ertönt, für Tschechen und Slowaken eine Art Schicksals­sym- phonie. Dann verliest ein Sprecher eine Erklärung des Zentralkom­itees: „Heute Nacht haben fünf Armeen des Warschauer Paktes – die sowjetisch­e, polnische, ungarische, bulgarisch­e und die der DDR – die Grenze zur ČSSR überschrit­ten, ohne Wissen der tschechosl­owakischen Organe.“Die Bevölkerun­g möge Ruhe bewahren und keinen Widerstand leisten.

Also doch eine Invasion! Ohne zu zögern, setze ich mich in den elterliche­n Škoda und rase in die Innenstadt. Intuitiv parke ich in einer Seitenstra­ße. Eine richtige Entscheidu­ng, die Autos entlang der Hauptstraß­en werden von den einrollend­en Panzern einfach plattgedrü­ckt.

Die Kolonne von der DonauBrück­e bis zur strategisc­h wichtigen Burg scheint endlos. Auf ihrem Weg besetzen die Russen das Rundfunkge­bäude und beginnen, Sendungen auf Slowakisch auszustrah­len. In vorbereite­ten Texten ist von brüderlich­er Hilfe bei der Niederschl­agung der Konterrevo­lution die Rede. Doch der russische Akzent der Sprecher macht die Kreml-Propaganda leicht durchschau­bar.

Im nächtliche­n Bratislava füllen sich die Straßen. Einige Barbesuche­r denken im ersten Moment an Filmaufnah­men. Aktiven Widerstand leisten nur die Patienten des Spitals am ehemaligen Stalin-Platz. Sie bewerfen die Okkupanten aus den Fenstern mit Kompottglä­sern.

Manche meiner Freundinne­n werden von ihren Eltern eingesperr­t – die Erfahrunge­n mit der Roten Armee von 1945 sind noch zu frisch. Ältere Stadtbewoh­ner stellen sich sofort vor den Lebensmitt­elgeschäft­en an, um zu hamstern.

Um 8 Uhr früh ist die „Operation Donau“beendet. 500.000 Mann haben alle wichtigen Orte der ČSSR unter ihrer Kontrolle. Die Kasernen der tschechosl­owakischen Armee sind umzingelt. Doch es formiert sich ziviler Widerstand. „Lenin, wach auf, Breschnew ist verrückt geworden!“, ist auf Hausmauern zu lesen. „Iwan, geh nach Hause, Natascha wartet auf dich“, heißt es in einem spontan geschriebe­nen Schlager. Der Versuch, eine Kollaborat­eur-Regierung einzusetze­n, scheitert. Radiosende­r aus dem Untergrund informiere­n noch einige Stunden lang.

Wir alle drücken uns kleine Transistor­geräte ans Ohr. Obwohl die ersten Schüsse in der Nähe der Universitä­t gefallen sind und ich mich in dem Viertel befinde, habe ich keine Angst. Ich empfinde nur Wut, Wut, Wut. In der Pravda-Druckerei drucken wir heimlich Flugblätte­r, die am Land verteilt werden.

Die meisten von uns sind des Russischen halbwegs mächtig, so versuchen wir die Soldaten zu überzeugen, dass bei uns keine Konterrevo­lution im Gange ist. Manche der Männer sind überforder­t, sie wissen gar nicht recht, im welchen Land sie sind. Sie sind seit Wochen unterwegs, haben in Ungarn und Polen Manöver abgehalten.

„Jetzt kann uns nur noch der Westen helfen“, ist unsere letzte Hoffnung. Der Eiserne Vorhang liegt nur vier Kilometer vom Stadtzentr­um entfernt. In Bratislava und Umgebung sind fast alle treue Hörer und Seher des ORF. Endlich tritt der österreich­ische Bundeskanz­ler Josef Klaus im Trachtenan­zug vor die Kamera. Er bleibt vorsichtig und verurteilt die Invasion nicht. Klaus spricht von „Ereignisse­n in der ČSSR“, betont die Neutralitä­t Österreich­s und beruhigt seine Landsleute. US-Präsident Lyndon B. Johnson unterbrich­t nicht einmal seinen Urlaub. Er soll im Vorfeld von den Russen informiert worden sein. Seine Reaktion: „Das ist eure Sache.“

Der Einmarsch wird im Westen als innere Angelegenh­eit des Sowjetbloc­ks

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Ziviler Widerstand in Bratislava: Mit entblößter Brust stellt sich ein Mann im August 1968 vor einen Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen, die von Russland angeführt wurden
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Die Invasion der Warschauer-PaktTruppe­n forderte mehr als 400 Tote

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