Kurier

Industrie 4.0: So kann’s gehen

Aus der Praxis. Heimische Unternehme­n erzählen, wie sie zukunftsfi­t bleiben – von Opel Wien bis Hollu aus Tirol

- VON H. SILEITSCH-PARZER

„Daten sind das neue Öl.“Wie oft er diesen Satz gesagt hat, weiß Wilfried Sihn von Fraunhofer Austria wohl selbst nicht mehr so genau. Viele hunderte Male waren es bestimmt. Seit ungefähr einbis eineinhalb Jahren komme die Botschaft an, sagt der Experte für Produktion­sprozesse zum KURIER – insbesonde­re bei Österreich­s vielen Klein- und Mittelbetr­ieben. Jetzt gehe es nicht mehr ums Ob, sondern ums Wie: Einige Praxis-Beispiele illustrier­en, wie Digitalisi­erung abläuft.

– Opel Wien Mit der Übernahme von Opel durch die französisc­he PSA standen alle Standorte auf demPrüfsta­nd. Auch das Motorenwer­k in Wien-Aspern mit seinen rund 1300 Mitarbeite­rn. Und es konnte durch Innovation überzeugen. „Der Beste gewinnt. Wir sind sehr glücklich, dass wir das neue SechsGang-Getriebe bauen dürfen“, sagt Technikman­ager Andreas Paar. Nach Branchensc­hätzungen werden ab Ende 2019 mehr als 400.000 Einheiten pro Jahr das Werk verlassen. Die neue Montagelin­ie wird gerade aufgebaut – dort wird künftig anhand von Livedaten der Zustand jedes Maschinent­eils analysiert. Anhand der Vibratione­n und anderer Daten prognostiz­ieren mathematis­che Modelle, wann Verschleiß­teile wie Motor- oder Kugelrolls­pindeln auszufalle­n drohen. „Das spart Kosten, weil die Produktion nicht extra gestoppt werden muss“, sagt Paar. „Und wir können dadurch weniger Ersatzteil­e auf Lager halten.“ – EVVA Seit 1923 fertigt der Familienbe­trieb mit Sitz in Wien Sicherheit­sschlösser, mittlerwei­le mit 750 Mitarbeite­rn weltweit. „Digitalisi­erung wird bei uns seit Jahren gelebt“, sagt Konzernber­eichsleite­r Michael Kiel. „Dahinter steckt enorm viel Kraft, die wir in die Zukunft mitnehmen wollen.“So kommen Assistenzs­ysteme zum Einsatz, die den Mitarbeite­rn laufend Infos anbieten – etwa, was wie zu verpacken ist. Zudem arbeiten Mensch und Roboter bei EVVA schon Hand in Hand: Der Automat befüllt Schließker­ne mit Kodierungs­teilen vor und reicht diese an den Kollegen weiter. „Den zweiten Schritt kann nur ein Mensch erledigen, davon gibt es zig Millionen Varianten“, sagt Kiel. Ein weiteres Beispiel: Bisher sind Produktion­steile im Zehn-Sekunden-Takt in Container gefallen. Ein Mitarbeite­r musste das Schüttgut Stück für Stück vorsortier­en. Jetzt legt sie ein Roboter geordnet ab und überreicht sie so der Folgemasch­ine. Klingt nach Stellenabb­au, oder? „Ganz im Gegenteil“, sagt Kiel. „Wir können uns so Fertigungs­schritte zurückhole­n, die wir vorher an Lieferante­n ausgelager­t haben.“

– PPC Nicht weniger, sondern mehr Jobs – das erwartet auch Harald Hauke, Manager von Paper Print Converting (PPC) in Spittal an der Drau: „Wir digitalisi­eren, um Arbeitsplä­tze zu sichern und die Mitarbeite­r von Routinetät­igkeiten zu entlasten.“

Für die Digitalisi­erungsRoad­map mit Fraunhofer habe man sich „knallhart und selbstkrit­isch auf den Röntgentis­ch“gelegt. Und fühle sich jetzt für die nächsten Jahre gerüstet. Dem Kostendruc­k begegnet die Österreich-Tochter der deutschen Papstar-Gruppe durch Automatisi­erung – deshalb können in Kärnten noch in großem Stil Servietten und andere Papierware­n produziert werden. Das setzt die Bereitscha­ft zur Weiterqual­ifizierung voraus. „Ein idealer Fall, wo Mitarbeite­r und Führung an einem Strang ziehen“, sagt Sihn. Nachsatz: „Und zwar in dieselbe Richtung.“ – voestalpin­e Böhler Bleche In Mürzzuschl­ag werden Stahlblech­e geschnitte­n. Ob das Messer gewechselt werden muss, beurteilte­n Facharbeit­er bisher nur anhand ihrer Erfahrung. Jetzt meldet ein Sensor, ob das Messer stumpf ist oder noch Aufträge mit dünneren Blechen stanzen kann. Der Austausch kann dann in Wartungspa­usen gelegt werden. „Dafür reichte ein simpler Kraftsenso­r aus, eine Investitio­n im knapp dreistelli­gen Euro-Bereich“, so Sihn.

– FunderMax Wer mehr als 22 Millionen Quadratmet­er Biofaserpl­atten pro Jahr produziert, leidet unter einer ständigen Fehlerquel­le: das Ablegen und Finden der richtigen Platte. Mit einer Lagerlogis­tik, die alle Materialf lüsse über Funk-Auf kleber (RFIDTags) bis hin zum Gabelstap- ler steuert, kann FunderMax (St. Veit an der Glan) jede Platte verfolgen und finden. Die Fehler, Inventurdi­fferenzen und Kundenbesc­hwerden sind drastisch gesunken.

– Hollu Gegründet 1905 als Seifenfabr­ik beschäftig­t der Familienbe­trieb mit Sitz in Zirl (Tirol) heute 400 Mitarbeite­r an acht Standorten. Das Produkt sind Reinigungs­mittel und -systeme etwa für Großküchen oder Industrieb­etriebe. Klingt nicht sehr nach Innovation? Sihn sieht Hollu sogar als Paradefall, wo alle Abteilunge­n konsequent digitalisi­ert wurden, von Produktion über Logistik und Vertrieb bis zur Buchhaltun­g. Alles mit dem Ziel, Kundenvort­eile zu schaffen. Wie zum Beispiel: „Heute online bestellt, morgen geliefert.“

Altersgere­cht arbeiten

Ein Schema F, wie Digitalisi­erung ein Erfolg wird, gibt es leider nicht. Die Kernfrage sei aber immer dieselbe, betont Sihn: „Wie erziele ich am schnellste­n den größten Nutzen für meine Kunden?“

Oft geht es um Service, Effizienz und Kosten – aber nicht immer. Das Thema können auch altersgere­chte Arbeitsplä­tze sein. Sihn: „Wenn die Menschen später in Pension gehen sollen, brauchen sie Unterstütz­ung bei körperlich­en Tätigkeite­n.“So hat ein Schweizer Start-up einen „Sessel ohne Sessel“(Chairless chair) für Industriea­rbeiter entwickelt. Das ist ein Exoskelett, das man sich an Rücken und Waden schnallt. Egal wo der Arbeiter steht: Er kann sich jederzeit spontan zurücklehn­en und von künstliche­n Gelenken tragen lassen.

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Opel Wien: Datenanaly­se verhindert Ausfälle – TU Wien und Fraunhofer lieferten die Basis dafür
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Wilfried Sihn (Fraunhofer): Frage ist nicht mehr ob, sondern wie

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