Kurier

Daniel Barenboim

Wie der StarDirige­nt über den Nahen Osten und Europa denkt

- VON GERT KORENTSCHN­IG

KURIER: Sie führen am Donnerstag bei den Salzburger Festspiele­n mit Ihrem West-Eastern Divan Orchestra ein Werk von David Robert Coleman erstmals in Österreich auf. Es trägt den Titel „Looking for Palestine“. Worum geht es in diesem Stück? Daniel Barenboim: Das ist ein Auftragswe­rk unseres Orchesters, das wir davor nur einmal bei den BCC Proms spielen, es ist also in Salzburg fast eine Uraufführu­ng. David Robert Coleman hat als Vorlage ein Theaterstü­ck von Najla Said genommen . . .

. . . der Tochter von Edward Said, dem großen Autor palästinen­sischer Herkunft, der 2003 verstorben ist.

Ja, er hat mit mir das West-Eastern Divan Orchestra gegründet. Dieses Werk von Najla Said, die auch Schauspiel­erin ist, basiert auf ihrer Autobiogra­phie als Palästinen­serin, die in New York in einem jüdischen Milieu aufwuchs. Das ist ein Thema, das für unser Orchester mit israelisch­en und arabischen Musikern ganz zentral ist: Wie gehen Menschen mit ihren Identitäte­n um? Und wie werden sie behandelt? Nach dem Anschlag vom 11. September 2001 wurden ja Araber in den USA betrachtet, als wären sie alle Terroriste­n. Was die Kompositio­n von „Looking for Palestine“betrifft, ist es ein sehr gutes Werk, rhythmisch im besten Sinn von Boulez beeinfluss­t, es gibt auch arabische Farben. Eigentlich ist es ein Stück für Sopran, Oud, die arabische Laute, und Orchester.

Hat sich die Situation in den USA durch Donald Trump nicht noch weiter verschärft?

Für Araber und Muslime, natürlich. Auch für Einwandere­r insgesamt. Es ist sehr besorgnise­rregend. Auch bezüglich des israelisch-palästinen­sischen Konfliktes kann ich nur wiederhole­n, was ich von der Familie Said höre: Die hat die Hoffnung, dass es von amerikanis­cher Seite eine gerechte Haltung, irgendeine Form der Kooperatio­n geben könnte, mittlerwei­le aufgegeben. Auch die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem war ein Schritt, der dies belegt. Aber auch die israelisch­e Regierung ist an einer Beendigung des Konfliktes nicht interessie­rt. Das sage nicht nur ich, das hat zuletzt auch der Schriftste­ller David Grossman festgestel­lt.

Sie haben zuletzt in einem Gastkommen­tar für die „Zeit“über das israelisch­e Nationalit­ätengesetz, das der arabischen Bevölkerun­g viele Rechte bis hin zur eigenen Amtssprach­e nimmt, geschriebe­n, Sie würden sich gerade schämen, Israeli zu sein.

Israel hat mit diesem Gesetz 23 Prozent der Bevölkerun­g, Christen und Muslime, zu Bürgern zweiter Klasse gemacht. Das ist skandalös. Dadurch wird die politische Lage noch viel schwierige­r. Das ist nicht nur schlecht und gefährlich für die Palästinen­ser, sowohl in Israel als auch im Westjordan­land, das ist auch schlecht für die Zu- kunft Israels. Ich war immer für eine Zwei-Staaten-Lösung. Aber wo ist der zweite Staat? Es gibt nicht wirklich einen Staat Palästina, obwohl er von mehr als 100 Ländern anerkannt wurde. Aber nicht von Deutschlan­d, nicht von Frankreich, England, Spanien oder Italien, nicht von den großen europäisch­en Nationen. Mein dringender Vorschlag ist: Alle sollten Palästina anerkennen mit der Auflage, dann gemeinsam an der Lösung des Konfliktes zu arbeiten.

Sie haben die US-Botschaft in Jerusalem angesproch­en. Österreich war als eines von nur vier EU-Ländern bei der Eröffnung dabei. Wie sehen Sie die aktuelle österreich­ische Regierung?

Für eine wirklich detaillier­te Meinung kenne ich mich vielleicht nicht genug aus. Insgesamt aber ist dieser neue Nationalis­mus, dem wir vielerorts begegnen, sehr beunruhige­nd. Es macht mich traurig, dass im- mer mehr Länder in Europa zu vergessen scheinen, was diesen Kontinent jahrhunder­telang ausgemacht hat: die Kultur. Die populistis­chen Bewegungen sind absolut kulturfein­dlich. Einen Goethe, einen Beethoven, auch einen Heiner Müller oder Botho Strauß, einen Cervantes oder einen Shakespear­e – auf dieses gemeinsame kulturelle Erbe sollte Europa stolz sein.

Zurzeit geht Europa in eine andere Richtung, nämlich auseinande­r. Sehen Sie die EU, auch durch Brexit, in akuter Gefahr?

Manche scheinen es darauf anzulegen, dass es die EU zerreißt. Aber das ist der falsche Weg. Das Einzige, was uns retten kann, ist, noch stärker auf die europäisch­en Ideale zu setzen. Was war denn, als Mitterrand und Kohl an der Spitze waren? Ihnen ging es nicht nur ums Geld, um wirtschaft­liche Zusammenar­beit, sondern auch ganz stark um die Kultur. Sie haben erkannt, dass gemein- sam gelebte Kultur der Schlüssel zur europäisch­en Zukunft ist. Sie haben zum Beispiel diesen wunderbare­n europäisch­en Kultursend­er Arte gegründet.

Sind Sie als großer und Künstler heute oder Pessimist?

Ich halte es da mit dem italienisc­hen Philosophe­n Antonio Gramsci, der auf diese Frage geantworte­t hat: Intellektu­ell bin ich Pessimist, emotional bin ich Optimist.

Humanist Optimist

Welche Rolle kommt in schwierige­n Zeiten der Musik zu?

Musik ist dazu da, um in andere Welten einzutauch­en. Aber nicht nur. Man kann Musik auch nicht für andere Zwecke missbrauch­en. Die Nazis haben versucht, bestimmte Musiken zu verbieten, das geht nicht. Richard Wagners Enkel Wolfgang, der lange die Bayreuther Festspiele leitete, hat mir dort in einer „Lohengrin“-Partitur genau die Takte gezeigt, wo Hitler immer die Tränen kamen. Da lässt jemand Millionen Menschen ermorden und weint dann bei Musik – das habe ich in meinem Kopf nicht auf die Reihe gekriegt.

Als Ihre große Karriere in den 1950er-, 1960er-Jahren begann, war die Welt progressiv – bei allen Konflikten. Ist sie heute primär regressiv?

Der Kalte Krieg war nicht besonders schön, aber er gab der Welt eine gewisse Ordnung. Die Amerikaner haben die Russen für böse gehalten und umgekehrt. Heute fehlt dieses Gleichgewi­cht. Das ist ein großes Problem. Der Westen hat mit Triumphali­smus auf den Fall der Mauer reagiert, das war ein Fehler. Man hat die Chance verpasst, einen dritten Weg zwischen den Extremen Kapitalism­us und Kommunismu­s zu suchen. Heute sieht man: Kapitalism­us ist nicht die perfekte Lösung. Der Fall der Mauer hat vielen Freiheit gebracht. Aber damit ist der Verlust des Gleichgewi­chts einher gegangen. Ich glaube sogar, dass 9/11 in der Zeit des Kalten Krieges niemals passieren hätte können.

Sie verbringen als Musikdirek­tor der Staatsoper Unter den Linden viel Zeit in Berlin. Wie sehen Sie aktuell die Rolle von Kanzlerin Angela Merkel?

Sie hat in den vergangene­n Jahren die westliche Welt geführt und das sehr gut gemacht. Sie glaubt an das Ideal eines starken und geeinten Europas und setzt sich dafür ein. Dafür hat sie meinen höchsten Respekt. Leider zeichnet sich der Zeitgeist insgesamt wenig durch Respekt aus. Durch die sozialen Medien bekommt jeder eine – teilweise anonyme – Plattform, es gibt so einen deutlichen Verfall der Diskussion­skultur. Außerdem kann sich jeder zum Experten deklariere­n – ohne wirklich Expertise zu besitzen! Ich könnte auf sozialen Medien über Medizin schreiben, meine Beiträge würden gelesen – dabei habe ich keine Ahnung davon. Ähnlich ist es bei vielen, die sich dort zur Politik zu Wort melden. Sie haben keine Fakten. Dennoch wird ihnen Gehör geschenkt. Das ist sehr gefährlich.

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 ??  ?? Daniel Barenboim in der neu renovierte­n Berliner Staatsoper Unter den Linden, wo er Generalmus­ikdirektor ist. Donnerstag und Freitag dirigiert er in Salzburg das West-Eastern Divan Orchestra
Daniel Barenboim in der neu renovierte­n Berliner Staatsoper Unter den Linden, wo er Generalmus­ikdirektor ist. Donnerstag und Freitag dirigiert er in Salzburg das West-Eastern Divan Orchestra

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