Als in Prag die Panzer rollten
Der sowjetische Einmarsch vor 50 Jahren – die Folgen
Politisch unverdächtiger kann ein Name kaum sein:
Die Umwelt heißt in den 60erJahren die Zeitschrift der slowakischen Akademie der Wissenschaften. Doch im Schicksalsjahr 1968 mutiert dasinterdisziplinäreBlattzur politischen Plattform. Mit voller Kraft unterstützt es die Reformpolitik von KP-Chef Alexander Dubček, die als „Prager Frühling“in die Geschichte eingehen wird.
Initiiert wird dieser Schwenk der Redaktion von der Wissenschaft zur Politik vom Arzt und Wissenschaftler M. M.: Er ist überzeugter Kommunist, derandieReformierbarkeit des Sozialismus glaubt. Ich lerne ihn in der Redaktion der Umwelt kennen, wo ich mir als Studentin erste Sporen verdiene.
Am 21. August 1968 werden wir jäh aus unseren politischen Träumen gerissen. Truppen des Warschauer Pakts besetzen die Tschechoslowakei. Einige Wochen lang leisten wir noch friedlichen Widerstand und schreiben offene Briefe gegen die Okkupation. Doch bald erkennen wir die brutale Wirklichkeit an. Im Herbst wird die Redaktion der Umwelt ausgewechselt. M. M. wird aus der KP ausgeschlossen, was auch das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere bedeutet. Der Familienvater findet Unterschlupf in Mähren, woeralskleinerBeamter in einer Hygiene-Station arbeitet. Ich gehe ins Exil nach Österreich.
„Normalisierung“
In der Tschechoslowakei beginnt die sogenannte „Normalisierung“– eine Periode der Finsternis und des moralischen Verfalls, die erst mit der Samtenen Revolution im November 1989 endet.
Die neuen Machthaber machen sämtliche Reformen rückgängig. Als erste Maßnahmen werden die Zensur und eine lückenlose Überwachung eingeführt. Die Reisefreiheit wird gestrichen bzw. aufOstblockstaatenbegrenzt. Die Politik habe wieder den Prinzipien des Marxismus-Leninismus zu folgen, heißt es. InderPraxisbedeutetdaseine Re-Stalinisierung. Es beginnt politischer Terror: So wie M. M. werden 327.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen. Hunderttausende verlierenihren Job.
Eine der begehrtesten Stellen unter den gefeuerten Regime-Gegnern ist die des Heizers:„Trocken, warmund genug Zeit zum Lesen.“
VielenJugendlichenwird das Studium verwehrt. Etwa 100.000 Tschechen und Slowaken kehren ihrer Heimat für immer den Rücken. Vor allem junge, gut Ausgebildete packen ihre Habseligkeiten. Eine Tragödie für das Land und seine Menschen. VieleFamilienwerdenfürimmer zerrissen, viele Ehen gehen kaputt, weil einer der Partner die Situation im Exil nicht meistert.
Die Befindlichkeiten der Flüchtlinge beschreibt Milan Kundera – selbst ein Emigrant – meisterhaft in seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“.
Der Prager Frühling und seine Niederschlagung sind mehr als eine Episode der Geschichte. Die Folgen wirken bis heute nach. Die erzwungene Anpassung in der Zeit der „Normalisierung“hat das moralische Rückgrat der Gesellschaft beschädigt.
Wirtschaftliche Folgen
Nicht weniger nachhaltig waren die ökonomischen Verluste durch die Beibehaltung der Planwirtschaft. In den Jahren bis 1989 nicht entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten zu dürfen, beschert vielen Menschen heute winzige Pensionen. Statt eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Alexander Dubčekwollte, bekommendie Tschechen und Slowaken ab August 1968 einen „SozialismusmitGänsehaut“– eineAn- spielung auf Präsident Gustáv Husák, dessen Name übersetztGänserich bedeutet.
Ich gehöre zu den wenigen Emigranten, die in den dunklen Jahren in ihre alte Heimat reisen dürfen. Mein österreichischer Ehemann hat mich „freigekauft“, indem er offiziell die Kostenfür mein Studium in der ČSSR zurückzahlte.
Vor jedem Besuch muss ich viel auswendig lernen, denn ich habe für Freunde und Bekannte Nachrichten zu überbringen. Sämtliche Telefonate in den und aus dem Westen werden abgehört, dieKorrespondenzwird zensuriert. Ich darf mir keine Notizenmachen, dennander Grenze werden alle Papiere –
sogar Putzerei-Zettel – peinlich genau inspiziert.
Ich helfe auch, Treffen von Exilanten mit ihren Verwandten zu organisieren. So rufe ich aus Bratislava die Mutter meines Wiener Freundes an, die in Nordböhmen wohnt, um ihr zu sagen, dass Josef in zwei Wochen nach Linz fahren wird. Die verschlüsselte Nachricht bedeutet, dass ihr Sohn Jarda sie in 14 Tagen im ungarischen Györ treffen möchte. Es ist anstrengend, all die Decknamen, OrteundTermine nicht durcheinanderzubringen.
Der tschechoslowakische GeheimdienstStBhatüberall Mitarbeiter – an jedem Arbeitsplatz, in jedem Plattenbau, sogar in vielen Familien. In meiner Familie ist es ein angeheirateter Onkel, wie wir erst nach seinem Tod erfahren. Er bespitzelte uns, um Karriere zu machen. Auch Geistliche der katholische Kirche arbeiten für den StB. Viele Menschen ziehen sich ins Private zurück.
Verhasste Besatzer
Während der Jahre der „Normalisierung“sind sowjetische Einheiten in der ČSSR stationiert. Wie viele es sind, weiß niemand. Beim Abzug im Juni 1991 wird ihre Zahl mit 73.500 Mann und mehr als 50.000 Angehörigen angegeben.
Das Verhältnis der Tschechen und Slowaken zum slawischen Brudervolk bleibt nachhaltig beschädigt. Aus den einst bejubelten Befreiern im Mai 1945 wurden verhasste Okkupanten.
Anfang 1970 beginnt sich vor allem in Tschechien Widerstandgegendie„Normalisierung“zu formieren, der in der Folge zur Gründung der Bürgerrechtsbewegung Charta77führt. 208namhafte Persönlichkeiten unterschreiben eine Petition, die Missstände in der ČSSR aufzeigt. Vaclav Havel, einer der Initiatoren, istim Land kaum bekannt.
Die ParteiBonzen halten eisern an ihrer „Normalisierung“fest. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer gehen die Tschechen und Slowaken mit Schlüsselbunden in der Hand auf die Straße. Die Samtene Revolution beginnt am 17. November 1989 und beschert mir ein Wiedersehen nach mehr als 20Jahren: M. M., derehemalige Spitzen-Wissenschaftler und geachtete Autor, der zum niederen Beamten degradiert wurde, steht auf dem RednerPodium in Bratislava.