„Manchmal muss man auch Psychologe sein“
Hochzeitsfotograf. Michele Agostinis beruhigt, hört zu und wird für einen Tag Teil einer fremden Familie
Die Gefühle anderer Menschen sind sein Geschäft. Michele Agostinis fotografiert Menschen, wenn sie am glücklichsten sind: am Tag ihrer Hochzeit. „Es ist ein Privileg“, erzählt der gebürtige Venezianer, „dass michdieMenschenfüreinenTag so tief in ihr Leben lassen. Als Hochzeitsfotograf kommt man dahin, wo die Menschen wirklich leben – in ihre Familien. Es ist wie eine offene Tür in das Leben der Menschen.“
Seit zwölf Jahren lichtet Agostinis, der für seine Liebe nachWienzog, BräuteundBräutigameab. Vorherarbeiteteerals Pressefotograf für eine italienische Zeitung. Da er vier Sprachen spricht, wird er auf der ganzen Welt gebucht. „Es ist spannend, wie unterschiedlich die Brautpaare in den verschiedenen Kulturen während des Shootings miteinander umgehen. Japaner zum Beispiel haben fast keinen Körperkontakt, amerikanische Paare wiederum sind sehr offen.“
Genießen
Einfühlungsvermögen wird demHochzeitsfotografenvorallem beim sogenannten „Getting Ready“abverlangt, wenn er die Braut beim Anziehen, Schminken und Frisieren begleitet. „Kurz vor der Trauung ist die Braut meist sehr emotional. Für meine Arbeit ist es aber wichtig, dass sie das Shooting genießt. Ich sorge dafür, dass sie sich beruhigt und vergisst, dass sie in einer halben Stunde heiratet. In meinem Job muss man manchmal auch Psychologe sein.“
Hinsehen, zuhören – das hat der Venezianer in seiner jahrelangen Arbeit als Pressefotograf gelernt. „Da kommt man an einen Ort und muss sofort Kontakt aufnehmen mit den Menschen und deren Geschichtehören, Informationenbekommen. IchhabeErfahrungmitvielen verschiedenen Menschen gemacht, zum Beispiel habe ich über zehn Monate hinweg an einem Projekt über KinderarbeitinLateinamerikagearbeitet. Es hilft beim Fotografieren, wenn man in die Lebensgeschichte der Person einsteigt.“
Überall Liebe
Die schönste Belohnung sei die Freude der Frischvermählten über die individuellen Bilder. „Und wenn ich merke, dass sich die Leute nicht nur über meine Arbeit freuen, sondern auch über meine Anwesenheit. Dass ich da bin, dass sie mich für einen Tag Teil ihrer Familie sein lassen.“
Warum er am liebsten Hochzeiten fotografiert? Der WahlWienerüberlegtnichtlange.„An diesen Tagen spürt man einfach überall Liebe. Und als Fotograf bekommt man davon auch ein bisschen was ab.“