Wie Fotografieren hilft,
Schicksale. Manche Menschen schreiben oder malen, um das, was ihnen widerfahren ist, zu bewältigen. Andere nehmen eine Kamera – und fotografieren.
Eine Mutter macht Tag für Tag Fotos von ihrem geliebten Sohn. Er heißt Eian, ist ein hübscher Bursche und die Bilder von ihm sind von einer großen Zärtlichkeit, mitunter sogar Zerbrechlichkeit. Auf den ersten Blick klingt das keineswegs nach einer außergewöhnlichen Sache. Eine Mutter betrachtet ihr Kind durch die Kamera – ja, und? Schaut man einwenignäherhin, dannsteckt dahinter eine berührende Geschichte.
Bei Eian wurde im Alter von drei Jahren eine autistische Störung diagnostiziert. Autismus zeigt sich unterschiedlich. DavonBetroffenehabenProbleme, sich auf veränderte Gewohnheiten einzustellen, oft ist das Verhalten von Autisten gleichförmig wiederkehrend. Viele leiden an einer Störung der Wahrnehmungsverarbeitung. Vor allem aber sind Autisten für Außenstehende schwer zu „erreichen“, selbst für ihre engsten Bezugspersonen.
Kamera als Schlüssel
Für Kate Miller-Wilson ist das tägliche Fotografieren eine Möglichkeit, Zugang zu ihrem Sohn zu bekommen, erzählt sie im KURIER-Interview. Außerdem hilft es ihr, Eians Autismus besser zu ertragen. „Ich habe mit diesem Projekt begonnen, weilichmeineeigeneBlickweise zeigen wollte, wie es ist, jemanden zu lieben, der schwer zu erreichen ist“, sagt MillerWilson. Mit ihrem Projekt „Look me in the Lense“wurde sie weltweit bekannt. Im Sommer startete sie eine erfolgreiche CrowdfundingKampagne, um Geld für ein Buch zusammenzubekommen. Nun entsteht daraus tatsächlich ein Bildband, der ab November erhältlich sein wird. Offenbar hat sie damiteinenNervgetroffen, viele Eltern autistischer Kindern habenmitihrKontaktaufgenommen, um sich auszutauschen.
Fotografieren ist in Zeiten von Smartphone-Kameras kaum etwas Besonderes mehr. FürvieleistesAlltag, sichtäglich mit „Duckface“und möglichst attraktiv ins Bild zu rücken. Die Selfie-Kultur ist omnipräsent, auf Instagram werden im Durchschnitt täglich 80 MillionenFotosgeteiltund3,5Milliarden Likes vergeben.
Und dann gibt es Menschen, für die bedeutet Fotografie viel mehralseineoberflächlicheAbbildung des Alltags. Sie fotografieren, umzuleben– undimweitesten Sinn, um zu überleben. Um das, was ihnen widerfährt oder widerfahren ist, zu verarbeiten. Mancheschreiben, andere malen – diese Menschen nehmen die Kamera und schießen Bilder. „Die täglichen FotoSessions sind für mich ein wichtiger Weg, um mich mit meinem Sohn zu verbinden. Wir reden, während ich fotografiere. Eian teilt seine Welt für mich – und die Linse meiner Kamera ist der Schlüssel dazu“, sagt Kate Miller-Wilson.
Auch eine andere US-amerikanische Fotografin, Melissa Spitz, erregte mit ihrem Fotoprojekt „Du musst dir keine Sorgen machen“viel Aufsehen und wurde vom TIME-Magazine zum „Instagram Photographer of the Year 2017“gekürt. Mit ihrer Kamera dokumentiert sie seit zehn Jahren das Schicksal ihrer Mutter, die tablettensüchtig ist und an einer psychischen Erkrankung leidet. Spitz war erst sieben Jahre alt, als sie ihre MutterdasersteMalineinerAnstalt besuchen musste. Heute kann die Frau oft nicht mehr die Bedeutung einzelner Wörter erfassen. Durch die Arbeit und das Tun mit der Kamera findet Spitz nicht nur Trost, sondern auch Zugang in eine für sie bedrohliche und fremde Welt.
Mittel zum Zweck?
An dieser Stelle stellt sich naturgemäß die Frage, wie sehr es denn überhaupt angebracht ist, das Schicksal eines nahestehenden Menschen auf diese Weise öffentlich zu machen. Wir fragen bei Kathe Miller-Wilson nach. Auf den Gedanken, dass sie ihren Sohn womöglich „benützt“, ist sie noch nie gekommen:„Interessant, darüberhabe ich wirklich noch nie nachgedacht. Ich hoffe nicht, dass an-