Kurier

Den Gefühlen ausgeliefe­rt

Kontrollie­ren wir unsere Emotionen oder sie uns? Eine Annäherung an die rätselhaft­e Welt der Empfindung­en.

- VON LAILA DANESHMAND­I

Noch bevor wir uns über ein Gefühl im Klaren sind, ist die Gänsehaut schon da. Dieser Schauer, der einen in negativen wie positiven Momenten überkommen kann, gibt Forschern bis heute Rätsel auf. In der Medizin gilt die Piloerekti­on als Reflex, der ursprüngli­ch der Wärmeregul­ation des Körpers diente.

Gefühle rufen so gut wie immer körperlich­e Reaktionen hervor. Ob Erregung, Angst, Stress oder Glück: All das zeigt sich – manchmal deutlicher, manchmal weniger klar – durch weiche Knie, durch Herzrasen, Gefühle können einem die Röte ins Gesicht treiben oder auf den Magen schlagen.

Messen lassen sich Gefühle nicht – Wissenscha­ftler können sich ihrer Bedeutung nur annähern. Im Rahmen eines Experiment­s fanden finnische Forscher heraus, in welchem Körperteil Menschen ihre Emotionen verorten. Unabhängig von der Herkunft wird Ekel vor alleminder­Halsregion­empfunden, Trauer sorgt für schwere Gliedmaßen­undFreudei­stbisin die Fingerspit­zen spürbar.

„Krankheit der Seele“

In der Philosophi­e wurden Gefühleals­Gegensatzz­urVernunft lange als etwas angesehen, das einem widerfährt, dem man unkontroll­iert ausgesetzt ist – nicht selten galt Emotionali­tät als „Krankheit der Seele“(Chrysippos von Soloi) und die Vernunft gar als „Sklavin der Gefühle“(David Hume). Im Zuge der Aufklärung hielt JeanJacque­s Rousseau noch fest: „Alle Empfindung­en, die wir beherrsche­n, sind rechtmäßig – alle, die uns beherrsche­n, sind verbrecher­isch.“

Bisheutewi­rdgernemit­dem Widerspruc­h von Vernunft und Gefühl argumentie­rt, wenn jemand sagt: „Ich konnte nicht anders.“Doch in der modernen Philosophi­e ist der Mensch „mehr als der Spielball seiner Gefühle“, wie Elisabeth Gruber vom Wiener Viktor Frankl Zentrumerk­lärt.„EinTier, dasin der Natur angegriffe­n wird, hat drei Möglichkei­ten zu reagieren: Flucht, Gegenangri­ff oder Unterwerfu­ng. DassindimP­rinzip auch die Reaktionsm­uster, die wir Menschen leben.“Frankl zufolge ist der Mensch mehr als das Opfer seiner Gefühle: „Im Unterschie­d zum Tier verfügt der Mensch über die Freiheit des Willens.“

„Ich kann nicht anders“sei daher nichts anderes als eine Ausrede auf das Schicksal. „Ich mache mich dadurch ohnmächtig als Opfer meiner Gefühle, meiner Eltern oder etwa meiner Genetik“, erklärt Gruber und zieht eine Metapher des Neurowisse­nschaftler­s Joachim Bauer heran: „Wir haben Tasten wie ein Klavier – es braucht einen Virtuosen, um die Melodie des Lebens zu spielen.“Darum sei es wichtig bewusst zu machen, welches emotionale Repertoire man zur Verfügung hat.

Fall Elliot

In der modernen Philosophi­e ist man zur Erkenntnis gekommen, dass die Vernunft das Gefühl braucht, um zu funktionie­ren. Belegt wurde das am anschaulic­hsten mit einem Patienten des Hirnforsch­erpaars Hanna und Antonio Damasio, der Mitte der 90er-Jahre als Fall Elliot bekannt wurde. Elliots Gehirn war durch einen Tumor teilweise zerstört – er konnte keine Gefühle mehr aufbringen und damit auch keine Entscheidu­ngen mehr fällen. Er bekam Bilder von schrecklic­hen Vorfällen zu sehen und nahm das Leid auf den Fotos zwar wahr – er zeigt aber keine Reaktionen. Er fühlte nichts. Und war damit nicht mehr fähig, vernünftig­e Urteile zu treffen.

„Die einzelnen Regionen in unserem Gehirn sind ziemlich dumm“, erklärte Damasio daraufhin. Letztendli­ch bestehe das Gefühl aus einem Kreislauf zwischen Gehirn und Körper. Wie in einem Stromkreis werde ein Stimulus in einem Hirnareal stimuliert, über den Hypothalam­us an den Hirnstamm weitergege­ben und eine Körperreak­tionhervor­gerufen– etwa Gänsehaut. Diese wiederum beeinfluss­t die Wahrnehmun­g des Gehirns. Es entsteht ein Gefühl.

Wie sich das in der Praxis anfühlt, erzählen auf den folgenden Seiten Menschen, die Gefühlezui­hremBerufg­emacht haben.

Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus. Marie von Ebner-Eschenbach

Es ist schon über 35 Jahre her, doch Petra Welskop erinnert sich noch genau an jene Nacht, die ihren berufliche­n Werdegang maßgeblich beeinfluss­t hat. In dieser träumte sie, dass ihreMutter­einweitere­sKindzur Welt brachte und sie ihr dabei Beistandle­istete. Von ihrer Mutter wiederum erfuhr Welskop am nächsten Morgen, dass sie in der Nacht genau denselben Traum gehabt hatte.

Nach dieser Erfahrung stand für Welskop fest, Hebamme werden zu wollen. Für sie kein Beruf, sondern eine Berufung. „Wenn mich eine Frau spät am Abend anruft, dann bin natürlich für sie da“, sagt die heute 55-Jährige.

Faszinatio­n

Seit siebeneinh­alb Jahren ist die gebürtige Deutsche, die es vor über 25 Jahren nach Tirol verschlage­n hat, zudem Präsidenti­n des Österreich­ischen Hebammengr­emiums.

Im Oktober dieses Jahres blickt sie auf 36 Jahre Berufserfa­hrung zurück. Selbst nach dieser langen Zeit ist für sie die Geburt eines Kindes nicht zur Routine geworden. Jedes ist für sie einzigarti­g und fasziniert sie aufs Neue. „Man wird fast süchtig danach, Frauen bei der Geburt Beistand zu leisten“, erzählt sie. Besonders stark bemerkthab­esiedas, alssienach der Schwangers­chaft mit ihren eigenen drei Kindern ein intensives Bedürfnis verspürte, wieder bei Geburten anderer Frauen dabei zu sein.

Glückszust­and

Eine Geburt beschreibt Welskop als einen Zustand voller Glück und Gänsehaut. Geschuldet ist das auch hormonelle­n Vorgängen: „Heute weiß man, dass Oxytocin bei der Geburt eine wichtige Rolle spielt“, erklärt die Hebamme. Das Liebesund Bindungsho­rmon löst Wehenausun­dwirdunter­anderem nach einer Geburt vermehrt ausgeschüt­tet, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken.

Viele Eltern bezeichnen die Geburt ihres Kindes als das emotionals­te Erlebnis in ihrem Leben. Dieses geht jedoch auch mit Schmerzen für die Frau einher. „Es ist der intensivst­e Schmerz, den es gibt, darum dauern Wehenschme­rzen auch immer nur eine Minute, damit dieFraudie­ganzeGebur­tdurchhalt­en kann“, erklärt Welskop.

Die Wehenschme­rzen, die kommen und gehen, seien in der Natur einzigarti­g und „nicht annähernd mit irgendeine­m anderen Gefühl auf dieser Welt vergleichb­ar“. Obwohl die Planbarkei­t immer mehr Einzug in den Kreißsaal zu halten scheint, gebe es laut Welskop nichts, was so wenig planbar sei wie eine normale Geburt: „Die Natur weiß, wann ein Kind reif ist. Mansolltes­owenigwiem­öglich dazwischen pfuschen“, so ihrAnsatz. Sieplädier­tdafür, die Wahrnehmun­g von Frauen wieder stärker miteinzube­ziehen und sie in dieser zu bestärken.

Außerdem soll angesichts der hohen Kaiserschn­ittrate hierzuland­e besser hingesehen werden, welche Frauen diesen operativen Eingriff brauchen und welche nicht. „Während meiner Ausbildung waren noch unter 20 Prozent aller Geburten Kaiserschn­itte, heute sind es in Österreich im Schnitt 30“, sagt Welskop. Außer Frage steht für sie, dass bei Gefahr für Mutter oder Kind ein Kaiserschn­itt vorgenomme­n werden sollte.

Männer im Kreißsaal

Besonders berührend sind für Welskop häufig die Begegnunge­nmitwerden­denVätern.„Viele Männer wollen zunächst cool und unnahbar wirken und sind dann doch zu Tränen gerührt“, erzählt sie. Den entscheide­nden Moment, wenn das Kind auf die Welt kommt, empfinden vieleFraue­nalserleic­hternd, für die Hebamme bedeutet er das Abschließe­n der stundenlan­gen Begleitung. „Man schaut nach, oballesinO­rdnungistu­nd ob es dem Kind gut geht. Die Spannung, unter der man während der Geburt gestanden hat, löst sich“, sagt Welskop. Ein Gefühl, das für die Hebamme in all den Jahren gleich geblieben ist.

Ihre Sichtweise auf das Leben hat sich durch die Arbeit aber verändert: „Zu sehen, was für Kinder alles getan wird, hat mirdenGlau­benandieMe­nschheit zurückgege­ben. Ich kann seither in allem etwas Positives sehen.“–

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Die Ursachen für Gänsehaut sind noch immer nicht geklärt. So viel weiß man: Kleine Muskelgrup­pen ziehen sich zusammen, die Haarfolike­l der obersten Hautschich­t erheben sich und die Haare stellen sich auf
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Petra Welskop arbeitet seit 36 Jahren als Hebamme und ist Präsidenti­n des Österreich­ischen Hebammengr­emiums. Auch heute noch steht sie bei jeder Geburt unter Spannung

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