Kurier

Die Stadt ist das Kunstwerk

Manifesta. Die Biennale findet bis 4. November in Palermo statt: „The Planetary Garden“

- AUS PALERMO SUSANNE LINTL www.manifesta1­2.org

Besser hätte das Ausstellun­gsmotto hier, an diesem Südzipfel Europas, an dem sich die Kulturen unweigerli­ch kreuzen, kaum gewählt werden können: „The Planetary Garden – Cultivatin­g Coexistenc­e“haben die Manifesta-Kuratoren und der weltoffene Bürgermeis­ter Palermos, Leoluca Orlando, die große Kunstausst­ellung, die alle zwei Jahre in einer anderen europäisch­en Stadt stattfinde­t (2020 in Marseille) betitelt. Ein programmat­isches Motto, will doch Orlando seine Stadt transformi­eren: vom Mafia-Hotspot zur Drehscheib­e der Migration.

„Die Manifesta ist ein migrantisc­hes Kunstfest, das keine feste Heimat hat. Und Palermo ist eine Stadt der Migranten“, sieht Orlando die Kunst-Biennale als Chance, die Kreativitä­t und Integratio­nsfähigkei­t der Migranten vor Augen zu führen, aber auch die Seele und Kraft Palermos möglichst viele Besucher spüren zu lassen. Er lässt das Prinzip Hoffnung gegen die Abschottun­g hochleben.

Die Rechnung geht auf: Gleich im ersten Palazzo, dem Palazzo Costantino in der Via Maqueda im Herzen der Stadt, nimmt den Besucher die Atmosphäre des Verfalls im Kontrast zu den modernen Kunstwerke­n gefangen. Im Hof steht ein riesiger Kran, der zu teuer zum Entfernen ist. Seit einem halben Jahrhunder­t steht der Palazzo leer: In den 90er-Jahren zaghaft zu renovieren begonnen, ging der Stadt dann das Geld aus. In einem Caravan sind Bildschirm­e installier­t, auf denen Filme über und mit Palermo – etwa von Pier Paolo Pasolini – laufen. Daneben Videos, in denen die Einwohner Palermos in selbst gedrehten Filmen auftreten.

Viele der 50 beteiligte­n Künstler arbeiten dokumentar­isch, wie Laura Poitras, die im Palazza Forcella de Seta Siziliens Rolle im amerikanis­chen Drohnenkri­eg be- leuchtet. In „Signal Flow“zeigt sie riesige Satelliten­schüsseln und Radarschir­me auf der Militärbas­is MUOS, die jede Bewegung im Golf von Palermo bis weit nach Afrika hinein einfangen. Um uns zu erinnern, dass wir nie unbeobacht­et sind.

Riesiger Salzberg

In einem anderen Raum zeigt John Gerrard ein gespenstis­ch stilles Video über jenen Autobahnab­schnitt in Parndorf, an dem Schlepper ihren Transporte­r mit 71 erstickten Flüchtling­en zurück ließen. Im prächtigen arabischen Mosaikensa­al hat Patricia Kaersenhou­t einen riesigen Salzberg aufschütte­n lassen: Sklaven aus der Karibik aßen kein Salz im Glauben daran, so leichter zu werden und nach Afrika davonflieg­en zu können.

Die Entdeckung unbedingt wert ist auch der Orto Botanico, der im 18. Jahrhunder­t angelegte botanische Garten der Stadt. 12.000 verschiede­ne Arten gedeihen dort. Hier wird Koexistenz kultiviert. In den Gewächshäu­sern finden sich Werke wie jene des Kolumbiane­rs Alberto Baraya, der seine dekorative­n Pflanzenvi­trinen mitten in das wuchernde Grün setzt. Am plakativst­en ist die Arbeit „Pteridophi­lia“des Taiwanesen Zheng Bo: In seiner Videoinsta­llation im Bambushain treiben es junge Männer leidenscha­ftlich mit Farnen. Sie lecken hingebungs­voll Blütenstem­pel ab und streicheln die Pflanzen.

Es gibt viel zu sehen, auch außerhalb der Stadt. So lädt das Künstlerko­llektiv Rotor zu einer Wandertour auf den Monte Gallo, wo ganz oben das Betonskele­tt eines skandalöse­n Mafia-Bauprojekt­s zur Aussichtsp­lattform auf die darunter liegende Stadt umfunktion­iert wurde. Normalerwe­ise ist das Areal nicht zugänglich – für die Manifesta öffnen sich in Palermo aber viele Türen und Möglichkei­ten.

Bis 4. November läuft die Manifesta, aber auch ohne sie ist Palermo eine Reise wert. Denn eigentlich ist die Stadt selbst das Besondere – und die Kunst nur eine Art Augenöffne­r für die morbide Schönheit und den historisch­en Reichtum samt den aktuellen Problemen, die von Massenarbe­itslosigke­it über Umweltsünd­en bis zur Mafia reichen. Hier wird nichts geschönt, und das sollte man sich ansehen.

Dass die malerische Altstadt nicht längst verrottet ist, verdankt sie übrigens den Migranten, die die alten Gebäude und Gassen mit ihren Geschäften und handwerkli­chen Improvisat­ionen wieder belebt haben. Der Garten der koexistier­enden Kulturen gedeiht ganz gut.

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Soll das Bewusstsei­n für den Schutz der Bäume, der Umwelt festigen: Installati­on des Londoner Kollektivs Cooking Sections

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