Besuch am Sterbebett
Drama. Ian McEwans unbalanciertes Porträt einer Richterin
„Kindeswohl“zählt nicht zu den besten Büchern von BritAutor Ian McEwan, und die Tatsache, dass er das Drehbuch zur Verfilmung seines eigenen Werkes selbst verfasste, hilft nur bedingt. Was trotzdem in Bann schlägt, ist das Spiel von Emma Thompson als Familienrichterin unter starkem Stress: Nicht nur kündigt ihr der vernachlässigte Ehemann – patent verkörpert von dem resoluten Stanley Tucci – eine Affäre an (!); auch der Fall eines jugendlichen Zeugen Jehovas, der aus religiösen Gründen eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert, quält die respektierte Juristin.
Leichtfüßig entwirft Regisseur Richard Eyre das Ambiente einer gehobenen Be- rufsklasse und deren geschmackvollen Wohnkomfort. Das hohe Niveau an britischer Noblesse, vorbildlich verkörpert von der gediegenen Figur der Richterin, verbreitet gewisses Wohlbehagen. Auch, dass ein sehr ergebener Sekretär jene Handreichungen übernimmt, die üblicherweise Frauen vorbehalten sind – Kaffee kochen, der Mylady in die Robe helfen – sorgt für lustvolles Gender-Reversal.
Im Kern des Dramas jedoch bilden sich Luftblasen. Der sterbende Teenager (eindrucksvoll blass: Fionn Whitehead aus „Dunkirk“) bekommt von der Richterin einen Überraschungsbesuch, der zwischen den beiden ein seltsam erotisches Band knüpft. Große Fragen über das Verhältnis von Kunst, Liebe und Leben tun sich auf, ohne weitere narrative Kreise zu ziehen. Gleichzeitig droht die nur halbherzig ausformulierte und streckenweise fast alberne Ehekrise die ohnehin schon recht unbalancierte Geschichte weiter aufzusplittern.
Emma Thompson spielt mit selbstbewusstem Grandeur, verkniffenen Lippen und einem Hang zur Überdeutlichkeit. Alles, was sie tut und sagt, wirkt so höchstpersönlich, dass man sich nur schwer entziehen kann. Kindeswohl. UK 2017. 105 Min. Von Richard Eyre. Mit Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead. KURIER-Wertung: