Kurier

Warum der Rechtsextr­emismus in Sachsen besonders verbreitet ist

Chemnitz. Wieder zogen rechte Recken durch die Stadt, randaliert­en und machten Jagd auf Migranten.

- AUS BERLIN SANDRA LUMETSBERG­ER

Attacken auf Flüchtling­sheime, Männer, die Hunde auf Migranten hetzen – wenn solche Schlagzeil­en aus Sachsen kommen, überrascht das wenig. Dass sich am Sonntag aber binnen Stunden mehr als 800 Menschen beim Chemnitzer Stadtfest einfanden, dort randaliert­en, Migranten jagten und beschimpft­en, wie Videos zeigen, ließ die Polizei aufschreck­en. Das Fest wurde abgebroche­n, die Stadt glich einer Kampfzone, berichtete­n Augenzeuge­n. Montagaben­d marschiert­en erneut Rechtsextr­eme auf, einige Tausend Menschen kamen zu einer Gegendemo. Es gab mehrere Verletzte.

Hintergrun­d: In der Nacht auf Sonntag war es in Chemnitz zu einer Messerstec­herei gekommen, ein 35Jähriger deutsch-kubanische­r Herkunft starb. Noch bevor die Polizei auf klären konnte (mittlerwei­le wurden ein 23-jähriger Syrer und ein 22-jähriger Iraker festgenomm­en), machten im Internet Gerüchte die Runde, etwa über ein zweites Todesopfer, was die Polizei strikt zurückwies. Doch da war es schon zu spät, die Hetze lief auf allen Kanälen: Die AfD-Chemnitz rief zur Demo auf, ebenso rechte Hooligan-Gruppen.

Unterschät­zte Szene

150 bis 200 Menschen gehören in Chemnitz laut Verfassung­sschutz der rechtsextr­emen Szene an. Vor einem Jahr versuchten sie einen Stadtteil zu besetzen. Trotz zivilgesel­lschaftlic­her Initiative­n bzw. Arbeit durch den Verfassung­sschutz fühlen sich Rechtsextr­eme in Sachsen offenbar wohl – doch wie entstand dieser politische Nährboden eigentlich? Die Szene wurde in der Vergangenh­eit stark unterschät­zt, erklärt Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassung­sund Demokratie­forschung an der TU Dresden, im Gespräch mit dem KURIER. Er erinnert an das Zitat des ehemaligen Landeschef­s Kurt Biedenkopf (CDU), wonach Sachsen immun gegen Rechtsextr­emismus sei. „Eine völlige Fehleinsch­ätzung“. Das Grundprobl­em bestand schon in der Endphase der DDR, erklärt der Politologe. „Skinhead-Bewegungen im Umfeld von FußballVer­einen, die lange unterdrück­t wurden, beachtete man nicht mehr. Doch durch das Vakuum an Autorität, den Zusammenbr­uch der alten Ordnung ist eine Leere eingetrete­n – genau da sind sie hineingest­oßen.“

Besonders erfolgreic­h waren sie in Ostsachsen: „Es gab wenig Arbeitsplä­tze, kaum Zivilgesel­lschaft und keine demokratis­chen Parteien, die vor Ort gearbeitet haben.“Dort ging auch die NPD hinein, baute eine Struktur auf, sprach vor allem junge Männer an, die keine Vereine hatten. 2004 schaffte es die Partei in den Landtag, 2014 f log sie raus – bis auf ein paar harte Mitglieder verlief der Übergang zur AfD fließend, so Vorländer.

Die Rechtspopu­listen sitzen der sächsische­n Regierung im Nacken, bei der Landtagswa­hl 2019 könnten sie stimmenstä­rkste Partei werden. Ministerpr­äsident Michael Kretschmer (CDU), der die Randale nach anfänglich­em Zögern verurteilt­e, („Es ist widerlich, wie Rechtsextr­eme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen.“) setzt auf einen Balanceakt mit der AfD. Viel Kritik erntete er, als er das Vorgehen der Polizei bei einer Pegida-Demo verteidigt­e: Beamte hielten ein ZDF- Kamerateam fest, zuvor wurde es von einem Demonstran­ten, der LKA-Beamter war, angepöbelt. Zwar entschuldi­gte sich Sachsens Polizeiche­f, doch beim Schutz der Pressefrei­heit ortet Experte Vorländer noch Auf holbedarf. Ebenso bei politische­r Bildung und Auf klärung: Das müsse in den Fußballver­einen passieren, in Zusammenar­beit mit Fanbetreue­rn und Sozialarbe­itern, aber auch in Schulen – „etwa mit Demokratie­erziehung.“

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Mehr als 800 Menschen zogen nach dem spontanen Aufruf rechter Gruppen am Sonntagnac­hmittag teils gewalttäti­g durch Chemnitz

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