Gleichberechtigt, aber nicht gleich
Mit seinem neuen Buch begibt sich Psychiater Raphael Bonelli auf dünnes Eis. Schon der Titel klingt – knapp vor dem Jahrestag der #metoo-Bewegung – nach Provokation: „Frauen brauchen Männer“heißt der mit Fallbeispielen aus seiner Praxis gespickte Beziehungsratgeber, Untertitel: „Und umgekehrt.“„Das ist eigentlich der wichtigste Satz“, betont der 49Jährige. „Ich bin kein Gesellschaftskritiker, aber ich möchte, dass die Leute wissen, woran die Millennials im Geheimen leiden. Sie erzählen mir Sachen, die sie öffentlich nie sagen würden.“Auf seiner Couch in der Wiener Innenstadt-Ordination nehmen mittlerweile viele Paare Platz, die zwischen 1980 und 2000 geboren wurden – eine Generation, der der Therapeut eine zunehmende Beziehungsunfähigkeit attestiert. Jedoch plagen die Millennials ganz andere Probleme als ihre Eltern und Großeltern. Woran also laboriert das Liebesleben der jungen Erwachsenen? Bonelli ortet eine „Verdrängung der eigenen Männlich- bzw. Weiblichkeit“. Ausschlaggebend für sein Buch sei eine junge Patientin gewesen, schön, erfolgreich und dennoch unglücklich, quasi der Prototyp der Generation Y: „Sie hat sich beklagt, dass ihr Mann zu wenig männlich sei. Als sie ihn darauf angesprochen hat, antwortete er: Wie soll ich männlich sein, wenn du zu wenig weiblich bist? Das war für mich ein Aha-Erlebnis.“
Klischee oder Wissenschaft?
Je mehr sich ein Mann von seiner „Männlichkeit“bzw. sich eine Frau von ihrer „Weiblichkeit“entfernt, desto schlechter steht es um das potenzielle Liebesglück, so die These des Autors. Was die Frage aufwirft, wie denn nun „weiblich“und „männlich“definiert sind. „Es gibt keine festgefahrenen Geschlechterrollen, kein ‚Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus‘ “, betont Bonelli. „Jeder hat sein individuelles Muster.“Sobald es im Buch nach Klischee riecht, zitiert er Studien, die beweisen: Frauen sind empathischer, besitzen eine höhere Sozialkompetenz und emotionale Intelligenz, Männer neigen zur Sachlichkeit, zum Spezialistentum und weisen eine höhere emotionale Stabilität auf. „Es geht nicht darum, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen ist“, sagt Bonelli. „Aber wenn die Geschlechter zu sehr aneinandergeschoben werden, gibt es keinen Eros mehr, also keine Anziehung zwischen Mann und Frau.“Was sich auch darin manifestiere, dass die Millennials viel weniger Sex haben als die Generationen vor ihnen.
Gendermedizin
Frei nach Freud kommt es bei den überdurchschnittlich gut gebildeten und um politische Korrektheit bemühten Millennials zu einem Konflikt zwischen dem Über-Ich, das durch gesellschaftliche Werte und Erziehung geprägt ist, und dem Es, den Trieben. Ist die Lösung also ein Retro-Szenario mit Heimchen am Herd und selbstbewusstem Karrieremann? Der Psychiater verneint vehement und plädiert für einen Mittelweg zwischen den starren Rollenbildern des 19. Jahrhunderts (Biologismus) und dem Genderismus, der davon ausgeht, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern erst durch die Gesellschaft geformt werden.
Das relativ junge Gebiet der Gendermedizin mache es vor. „Es gibt keine gute alte Zeit. Mann und Frau dürfen unterschiedlich sein und müssen trotzdem gleiche Rechte haben, vor allem in Hinblick auf die berufliche Entfaltung. Man darf sich nur nicht verkrampfen. Etwa im Haushalt: Statt um jeden Preis halbe halbe durchzuziehen, soll jeder dort anpacken, wo es notwendig ist. Nicht so viel nachdenken, einfach machen.“
Das Buch sei durchaus autobiografisch, gesteht Bonelli, seit fünf Jahren verheiratet und Vater zweier Söhne. „Meine Frau hat mich zu einem besseren Mann gemacht. Weil ich früher sehr scharf war, sehr analytisch, manchmal beleidigend.“Denn ein Zuviel an Männlichkeit, weiß der Psychiater, ist für die Liebe genauso schädlich wie zu wenig.