Kurier

„Ein Film über männliche Dominanz“

„Nach dem Urteil“. Regisseur Xavier Legrand über sein beklemmend­es Langfilmde­büt (ab Freitag im Kino)

- VON SUSANNE LINTL

Die Anhörung vor dem Familienge­richt, bei der es für ein geschieden­es Paar um das Sorgerecht für den 11-jährigen Julien geht, wird zur Tragödie für die Ex-Frau und das Kind: Auf Druck des gewalttäti­gen Ex-Ehemanns und mithilfe eines guten Anwalts spricht das Gericht dem Mann das Recht zu, dass Julien jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen darf.

Besuche, die für den Buben zur Tortur werden: Der brutale Vater setzt ihn massiv unter Druck, ihm den Aufenthalt­sort seiner Mutter zu verraten. Ein packender, beklemmend­er Film des jungen französisc­hen Regisseurs Xavier Legrand, der den Besucher verstört aus dem Kino entlässt.

Legrand ist, sitzt man ihm gegenüber, so ziemlich das genaue Gegenteil des skrupellos­en und gewalttäti­gen Mannes (im Film fabelhaft gespielt von Denis Ménochet). Sein Weltbild ist friedlich und inklusiv: „Diese vor allem in Beziehunge­n zur Schau gestellte männliche Dominanz macht mir Angst. Dieses Verherrlic­hen des Patriarcha­ts, das vor nichts Halt macht. Ich fand, dass es an der Zeit war, dass auch Männer dagegen aufzeigen. Und ich wollte andere Männer ermutigen, ihre Perspektiv­e zu ändern. Ja, das ist ein Film über männliche Dominanz, die sich oft sehr negativ auswirkt. Mein Film dazu.“

Als Zuseher im Kino ertappt man sich dabei, richtiggeh­end mitzufiebe­rn mit der bedrängten Frau und dem Kind, ja, richtig Angst zu haben. – „Die Angst ist hier allgegenwä­rtig. Sie geht von einem Mann aus, der alles, wirklich alles tun würde, um seine Frau zu einer Rückkehr zu zwingen. Antoine, der Mann, ist eine konstante Bedrohung für sein Umfeld. Eine tickende Zeitbombe.“

„Griechisch­e Tragödie“

Legrand hat für den Film zwei Jahre lang intensiv recherchie­rt – hat Richter getroffen, misshandel­te Frauen und gewalttäti­ge Männer. Und natürlich auch von den Beziehungs­kriegen traumatisi­erte Kinder.

„Das Ganze ist wie eine griechisch­e Tragödie. Es nimmt dich wirklich mit. Das Schlimme ist, dass viele Menschen Bescheid wissen, aber sich keiner gegen diese Unholde vorzugehen traut. Wussten Sie, dass in Frank- reich alle zweieinhal­b Tage jemand an den Folgen häuslicher Gewalt stirbt? Doch selbst wenn die Medien darüber berichten, bleibt das Thema weitgehend tabu.“

Haben Ihre Schauspiel­er – allen voran Léa Drucker, Denis Ménochet und Thomas Gioria als Julien – das schwere Thema am Abend mit nach Hause genommen?

„Nein, das wollte ich unbedingt vermeiden, vor allem bei Thomas. In dem Wort Schauspiel ist als entscheide­nder Teil das Spiel enthalten. Das Leben ist etwas anderes als ein Film.“

Entsetzt zeigt sich Legrand auch darüber, dass die Anhörungen vor dem Familienri­chter, in denen es um Zukunft und Lebensglüc­k von Kindern geht, nur ganz kurz dauern. „Ein Richter in Frankreich kümmert sich am Tag um sage und schreibe 20 Fälle. Das ist doch Wahnsinn, oder?“Nimmt die Gewalt in Familien zu? „Gewaltausw­üchse hat es immer gegeben, aber sie wurden nicht so öffentlich wahrgenomm­en.“Verschärft wird die dichte Atmosphäre des Films noch durch das Weglassen jeglicher Filmmusik. Nur Alltagsger­äusche wie der Blinker eines Autos sind zu hören.

„Ich sagte mir, du brauchst keine Musik, um die dramatisch­e Situation deder Protagonis­ten noch zu unterstrei­chen. Die Realität ist angsteinfl­ößend genug.“

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Léa Drucker und Denis Ménochet in „Nach dem Urteil“: „Ein Richter in Frankreich kümmert sich am Tag um sage und schreibe 20 Fälle. Das ist doch Wahnsinn, oder?“, sagt der Regisseur
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Xavier Legrand recherchie­rte zwei Jahre lang für den Film

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