„Ein Film über männliche Dominanz“
„Nach dem Urteil“. Regisseur Xavier Legrand über sein beklemmendes Langfilmdebüt (ab Freitag im Kino)
Die Anhörung vor dem Familiengericht, bei der es für ein geschiedenes Paar um das Sorgerecht für den 11-jährigen Julien geht, wird zur Tragödie für die Ex-Frau und das Kind: Auf Druck des gewalttätigen Ex-Ehemanns und mithilfe eines guten Anwalts spricht das Gericht dem Mann das Recht zu, dass Julien jedes zweite Wochenende bei ihm verbringen darf.
Besuche, die für den Buben zur Tortur werden: Der brutale Vater setzt ihn massiv unter Druck, ihm den Aufenthaltsort seiner Mutter zu verraten. Ein packender, beklemmender Film des jungen französischen Regisseurs Xavier Legrand, der den Besucher verstört aus dem Kino entlässt.
Legrand ist, sitzt man ihm gegenüber, so ziemlich das genaue Gegenteil des skrupellosen und gewalttätigen Mannes (im Film fabelhaft gespielt von Denis Ménochet). Sein Weltbild ist friedlich und inklusiv: „Diese vor allem in Beziehungen zur Schau gestellte männliche Dominanz macht mir Angst. Dieses Verherrlichen des Patriarchats, das vor nichts Halt macht. Ich fand, dass es an der Zeit war, dass auch Männer dagegen aufzeigen. Und ich wollte andere Männer ermutigen, ihre Perspektive zu ändern. Ja, das ist ein Film über männliche Dominanz, die sich oft sehr negativ auswirkt. Mein Film dazu.“
Als Zuseher im Kino ertappt man sich dabei, richtiggehend mitzufiebern mit der bedrängten Frau und dem Kind, ja, richtig Angst zu haben. – „Die Angst ist hier allgegenwärtig. Sie geht von einem Mann aus, der alles, wirklich alles tun würde, um seine Frau zu einer Rückkehr zu zwingen. Antoine, der Mann, ist eine konstante Bedrohung für sein Umfeld. Eine tickende Zeitbombe.“
„Griechische Tragödie“
Legrand hat für den Film zwei Jahre lang intensiv recherchiert – hat Richter getroffen, misshandelte Frauen und gewalttätige Männer. Und natürlich auch von den Beziehungskriegen traumatisierte Kinder.
„Das Ganze ist wie eine griechische Tragödie. Es nimmt dich wirklich mit. Das Schlimme ist, dass viele Menschen Bescheid wissen, aber sich keiner gegen diese Unholde vorzugehen traut. Wussten Sie, dass in Frank- reich alle zweieinhalb Tage jemand an den Folgen häuslicher Gewalt stirbt? Doch selbst wenn die Medien darüber berichten, bleibt das Thema weitgehend tabu.“
Haben Ihre Schauspieler – allen voran Léa Drucker, Denis Ménochet und Thomas Gioria als Julien – das schwere Thema am Abend mit nach Hause genommen?
„Nein, das wollte ich unbedingt vermeiden, vor allem bei Thomas. In dem Wort Schauspiel ist als entscheidender Teil das Spiel enthalten. Das Leben ist etwas anderes als ein Film.“
Entsetzt zeigt sich Legrand auch darüber, dass die Anhörungen vor dem Familienrichter, in denen es um Zukunft und Lebensglück von Kindern geht, nur ganz kurz dauern. „Ein Richter in Frankreich kümmert sich am Tag um sage und schreibe 20 Fälle. Das ist doch Wahnsinn, oder?“Nimmt die Gewalt in Familien zu? „Gewaltauswüchse hat es immer gegeben, aber sie wurden nicht so öffentlich wahrgenommen.“Verschärft wird die dichte Atmosphäre des Films noch durch das Weglassen jeglicher Filmmusik. Nur Alltagsgeräusche wie der Blinker eines Autos sind zu hören.
„Ich sagte mir, du brauchst keine Musik, um die dramatische Situation deder Protagonisten noch zu unterstreichen. Die Realität ist angsteinflößend genug.“