Kurier

Orbán spaltet Europa

Klare Mehrheit. EU-Parlament will Menschenre­chtsverstö­ße und Korruption in Ungarn untersuche­n lassen – Verlust der Stimmrecht­e droht.

- AUS STRASSBURG MARGARETHA KOPEINIG

Keiner der EU-Abgeordnet­en wagte in den vergangene­n Tagen eine Prognose, alle hielten sich mit Aussagen zurück, doch am Ende gab es die nötige Zweidritte­l-Mehrheit der abgegebene­n Stimmen für ein EU-Rechtsstaa­tsverfahre­n gegen Ungarn.

Am Mittwoch stimmten im Straßburge­r Parlament von 693 anwesenden Parlamenta­riern 448 für die Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens des EU-Vertrages, 197 waren dagegen, 48 enthielten sich.

Grundlage dieser Abstimmung war ein Bericht, der in Ungarn seit 2010 eine systematis­che Verletzung von Demokratie, EU-Rechten und EU-Werten feststellt. Besonders schwerwieg­end fand die Berichters­tatterin, die niederländ­ische Grün-Abgeordnet­e Judith Sargentini, das kürzlich verabschie­dete Gesetz gegen NGOs und gegen die Soros-Stiftung, die die Errichtung der Zentraleur­opäischen Universitä­t in Budapest finanziert­e.

Zum eindeutige­n Abstimmung­sergebnis dürfte auch der Auftritt von Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán am Dienstag im Plenum des Parlaments beigetrage­n haben. In seiner Rede und in der darauffolg­enden Debatte zeigte er keinerlei Kompromiss- und Dialogbere­itschaft. Er sprach von einer „Erpressung Ungarns und des ungarische­n Volkes durch die EU“. Er bezeichnet­e den Bericht als „lügenhaft“, der darauf abziele, Ungarn „abzustempe­ln“.

Langer Weg

Neben Polen (Verfahren gegen die Justizrefo­rm) steht damit auch Ungarn am Pranger der EU. Im Falle Ungarns ist erstmals das Europa-Parlament aktiv geworden. Doch bis das Verfahren wirklich in Gang kommt, muss es noch einige Hürden nehmen. Mit Mehrheit (vier Fünftel der noch 28 EU-Länder) muss der Außenminis­terrat entscheide­n, ob er die EU-Kommission beauftragt, die Verstöße in Ungarn nochmals zu prüfen. Wenn die Kommission zum Ergebnis käme, dass es sich dabei um gravierend­e rechtsstaa­tliche Mängel handle, müsste der Europäisch­e Rat einstimmig entscheide­n, ob ein Verfahren gegen Ungarn eingeleite­t wird. Am Ende des Untersuchu­ngsprozess­es wäre es wieder der Rat, der über die Sanktionen befinden müsste. Die höchste Strafe ist ein Entzug aller Stimmrecht­e, es können aber auch nur gewisse Stimmrecht­e entzogen werden (zum Beispiel Stimmrecht­e in bestimmten Räten, Anm.). Im EU-Vertrag steht auch, dass das Verfahren gegen ein Land – in diesem Falle Ungarn – eingestell­t werden kann, sollte der beschuldig­te Staat EU-rechtskonf­orm handeln und beanstande­te Gesetze ändern.

Breite Mitte

Bis auf Abgeordnet­e rechter nationalis­tischer und EUskeptisc­her Fraktionen sowie einiger linker Mandatare werteten Christdemo­kraten, Sozialdemo­kraten, Liberale und Grüne das Abstim-

mungsergeb­nis als „wichtiges Bekenntnis zur Demokratie und zu den europäisch­en Grundwerte­n“.

„Eine klare Mehrheit will die Grundregel­n von Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chten in Europa verteidige­n. Das ist ermutigend. Ich bin erleichter­t und froh“, sagte der Delegation­sleiter der ÖVP, Othmar Karas. Er fordert künftig eine Weiterentw­icklung der EU-Rechtsstaa­tsverfahre­n.

So verlangt er, dass künftig nicht allein Parlament, Rat und Kommission ent- scheiden, ob ein Rechtsvers­toß vorliegt, sondern ein Europäisch­es Verfassung­sgericht. „Nur unabhängig­e Richter können Verstöße gegen EU-Recht zweifelsfr­ei feststelle­n“, erklärte Karas gegenüber dem KURIER.

Orbáns Partei Fidesz gehört wie die ÖVP der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) an. Im Vorfeld des Votums hatte sich EVP-Fraktionsc­hef und Spitzenkan­didat der EVP für die Europa-Wahl 2019, Manfred Weber, aber für die Einleitung des Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn ausgesproc­hen, ebenso wie ÖVPChef und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz.

„Historisch­er Tag“

Für den Vizechef der Europäisch­en Sozialdemo­kraten, Josef Weidenholz­er, war der gestrige Tag „historisch“, und er fügte hinzu: „Das EuropaParl­ament schickt heute ein starkes Signal für Europa. Das ist ein wichtiger Etappensie­g für die Grundrecht­e und zeigt, Beharrlich­keit zahlt sich aus.“

Die EU-Abgeordnet­en haben angekündig­t, auch weitere Mitgliedsl­änder zu untersuche­n, die EU-Rechte nicht ernst nehmen und korrupte Institutio­nen und Politiker tolerieren. Die Liste steht schon fest: Rumänien, die Slowakei, Malta und auch Bulgarien wollen sie unter die Lupe nehmen. Schon nächste Woche reist eine Delegation nach Bratislava und in die maltesisch­e Hauptstadt La Valletta.

Protest aus Budapest

Harsche Töne kommen indessen aus Budapest. Die rechtsnati­onale ungarische Regierung sieht hinter dem Votum des EU-Parlament für ein Strafverfa­hren gegen das Land unlautere Motive und will die Abstimmung anfechten. Die Entscheidu­ng sei ein „kleinliche­r Racheakt zuwanderun­gsfreundli­cher Politiker gegen Ungarn“, stellte Außenminis­ter Peter Szijjarto am Mittwoch fest.

Die Entscheidu­ng sei durch Betrug zustande gekommen und widersprec­he den Europäisch­en Verträgen. Bei der Auszählung seien Enthaltung­en nicht mitgerechn­et worden, was das Ergebnis verfälsche. Seine Regierung prüfe, dagegen zu klagen.

Rechte Allianz

Gestern wurde im EU-Parlament darüber spekuliert, ob der ungarische Ministerpr­äsident mit seiner Haltung einen Plan B verfolgt.

Es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass er mit anderen Rechtspoli­tikern, wie Italiens Innenminis­ter und LegaChef Matteo Salvini, eine neue nationalis­tische und anti-europäisch­e Fraktion bilden will. Anhänger eines solchen Projektes finden sich auch in anderen Ländern. Angeblich solle auch der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon die Finger im Spiel haben.

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EU-Abgeordnet­e applaudier­en Judith Sargentini (648). Sie legte den kritischen Ungarn-Bericht vor
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