Kurier

Ein Abschied auf Raten SPÖ im Dilemma.

Ex-Kurzzeit-Kanzler Kern überrascht die größte Opposition­spartei: Er will bei der EU-Wahl antreten und danach den SPÖ-Vorsitz abgeben. Parteitag im Oktober abgesagt.

- JOSEF VOTZI

Zwei Wochen vor seiner Wiederwahl zieht sich der Parteichef auf Raten in Richtung Brüssel zurück.

Wer Christian Kern in den vergangene­n Wochen live erlebte, begegnete einem Mann, der äußerlich höchst bemüht die Fassung wahrte. Im Auftritt eloquent, wie immer, in der Sache selbst aber immer im Overdrive-Modus: Eine Spur zu grell, zu laut, alles in allem überdreht. Kern malte ein Katastroph­enbild des Zustands der Republik, das auch sachlich gerechtfer­tigte Kritik mit einem dominanten Eindruck überstrahl­te: Hier stehe ich als Verkannter und kann nicht anders. Jede politische Aussage blieb so überdeckt von der Kern-Botschaft: Es ist und bleibt ungerecht, dass statt einem Christian Kern nun ein Sebastian Kurz im Kanzlerses­sel sitzt.

In die Rolle des Opposition­sführers fand der SPÖChef so auch bald ein Jahr nach seiner Abwahl als Kanzler nie. Verkannt fühlte sich Kern offenbar auch in den eigenen Reihen. Der verbindlic­he Hans Peter Doskozil ging mit einer Ansage gegen eine „grün-linke FundiPolit­ik“in der SPÖ-Programmde­batte offen in Opposition gegen Kern. Eine Personalde­batte wurde vorauseile­nd heftig dementiert, bevor sie jemand überhaupt öffentlich eröffnet hatte. Kern spürte nach der krachenden Wahlnieder­lage, dem missglückt­en Start in die Opposition und dem Sperrfeuer rund um die Migrations­kurs-Debatte offenbar, dass er nun auch in der SPÖ permanent mit Gegenwind zu rechnen hat.

EU-Spitzenman­n fix, Opposition­schef gesucht

Christian Kern versucht sich jetzt mit einer zirkusreif­en Volte aus dem internen SPÖ-Minenfeld zurückzuzi­ehen. Er übernimmt den Job des SPÖ-Spitzenkan­didaten bei der EU-Wahl im Mai und setzt darauf, bald auch als europaweit­er Spitzenman­n der Sozialdemo­kraten ins Rennen zu gehen. Nicht nur die SPÖ suchte bislang vergeblich nach einem Spitzenkan­didaten, auch die SPE fahndet nach einem Widerpart für EVP-Mann Manfred Weber und vor allem die neue Rechtspopu­listen-Achse Orban/Salvini/Strache.

Gutmeinend­e in der SPÖ sagen, Kern wolle bei der EU-Wahl am 26. Mai 2019 im großen Europa seine Scharte vom 15. Oktober im kleinen Österreich ausmerzen. Kern-Kritiker – und das sind seit gestern mehr statt weniger – schütteln angesichts der Vorgangswe­ise den Kopf.

Zweieinhal­b Wochen vor dem Programmpa­rteitag steht die SPÖ über Nacht so vor einem PersonalDi­lemma: Sie hat nun zwar einen Spitzenkan­didaten für die EU-Wahl in acht Monaten – und braucht aber dringend einen Opposition­schef, der bald ein Jahr nach der Machtübern­ahme durch Türkis-Blau die zwischen Totaloppos­ition und Alternativ­angebot straucheln­de Regierungs­partei a. D. wieder in die Gänge bringt.

Christian Kern war bislang vor allem parteiinte­rn für seine Sprunghaft­igkeit und seine 180-Grad-Volten bekannt und berüchtigt.

Jetzt sitzt das politische Österreich in der ersten Reihe und hat angesichts dieses überfallsa­rtigen Rückzugs auf Raten Richtung Brüssel zunehmend mehr verständni­slose Fragen als plausible Antworten.

eMail an: josef.votzi@kurier.at auf Twitter folgen: @JosefVotzi

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