Kurier

Was ist österreich­isch?

Lokalaugen­schein. Im Habsburger- Archiv lagert Österreich­s Identität, der in einem neuen Buch nachgespür­t wird

- VON SUSANNE MAUTHNER-WEBER (TEXT) UND GERHARD DEUTSCH ( BILDER)

Eine Anekdote erzählt Wolfgang Maderthane­r gerne: Er, der als Chef des Österreich­ischen Staatsarch­ivs auch über die Bestände der Habsburger wacht, hat mitunter den Präsidente­n des Deutschen Bundesarch­ivs zu Gast. Und weil das Österreich­ische Staatsarch­iv auch das Archiv des Römischen Reiches bis 1804/06 umfasst, betrachtet es der deutsche Kollege „als einen zentralen Teil des Deutschen Nationalar­chivs. Nach dem dritten Bier stellt er Restitutio­nsforderun­gen.“Maderthane­r lacht herzlich. Um dann ernst anzufügen: „Es ist ein gesamteuro­päisches Archiv.“16 Kilometer Regalfläch­e in einem elfgeschoß­igen Speichertr­akt komplett aus Eisen am Wiener Minoritenp­latz. Direkt drunter verläuft die U-Bahn.

Ja, das Haus-, Hof- und Staatsarch­iv ist „ein unglaublic­hes Schatzkäst­chen“, wie es Maderthane­r nennt. Es deckt alle Regionen ab, in denen die Habsburger je geherrscht haben – den Balkan, die Niederland­e, Belgien und Spanien inklusive der amerikanis­chen Kolonien. Das Privilegiu­m Maius mit seinem beeindruck­endem Goldsiegel („Das einzig Echte an der Fälschung aus dem Mittelalte­r, mit der den Habsburger­n viele Rechte zugestande­n wurden.“), die Pragmatisc­he Sanktion aus 1713 (mit der die weibliche Erbfolge festgelegt wurde) und die von Kaiser Franz Joseph 1914 unterzeich­nete Kriegserkl­ärung lagern dort in den unzähligen Schachteln. Spannend auch das Tagebuch von Kaiser Karl VI., dem Vater von Maria Theresia („ Er war der Erste, der ein Tagebuch führte und durchaus Banales notierte – ganz selbstvers­tändlich in Deutsch, Latein, Französisc­h oder Spanisch.“).

„Diese Urkunden ruhen normalerwe­ise und kommen nicht an die Öffentlich­keit. Nur ganz selten bekommt man sie in Ausstellun­gen oder raren Führungen zu Gesicht“, sagt Maderthane­r. (Ein Privileg, das jetzt auch dem KURIER gewährt wurde).

Schade eigentlich, dachte Historiker Maderthane­r und wählte jetzt, anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Republiksg­ründung, 99 Doku- mente für einen Prachtband aus. Anhand derer wollte er klären, was das ist – dieses Österreich. Im Interview mit dem KURIER sagt er: „Mir war wichtig, die Bestände des Staatsarch­ivs zu zeigen. Mein Idee war, diesem eigenartig­en Gebilde nachzugehe­n, das seit etwa 1000 Jahren als Österreich bezeichnet wird.“Und weiter: Es gibt Dinge, die dabei sein mussten – die Pragmatisc­he Sanktion, das Privilegiu­m Maius, die Regierungs­erklärung von Kreisky 1970. Es gibt aber auch Vampir-Akten bei uns, einen Einstein-Brief an Fritz Adler – überrasche­nde Dokumente, die aber wichtig für die Definition des Österreich­ischen sind.“

Maderthane­r und seine Co-Autoren erzählen viele unbekannte Anekdoten, etwa über den gelben Ring, eine Kennzeichn­ungspflich­t für Juden im Mittelalte­r; widmen sich nicht nur Victor Adler, sondern auch dessen hochbegabt­er Frau Emma, dem legendären Fußballer Matthias Sindelar oder dem Staatsoper­ndirektor Gustav Mahler; und zeigen ein Foto des mexikanisc­hen Erschießun­gskommando­s von Erzherzog Maximilian.

Einzige Bedingung Maderthane­rs an sich selbst: „Die ausgewählt­en Menschen und Dokumente mussten paradigmat­isch für die Entwicklun­g Zentraleur­opas stehen – einem Raum, der hochkomple­x und daher ungeheuer interessan­t ist. Begabt für die höchsten Kulturleis­tungen, aber auch für das Schrecklic­hste.“Womit wir wieder bei der eingangs gestellten Frage wären: Was ist Österreich, Herr Maderthane­r? „Österreich war immer ein Konglomera­t von unterschie­dlichst organisier­ten Ländern, die eine Gemeinsamk­eit hatten – die Dynastie Habsburg, die die Politik der erblichen Erweiterun­g betrieb – mit Kriegen und Hochzeiten; die sogar zum Global Player aufstieg. All das, was man als Österreich bezeichnet, war immer etwas Fließendes, nicht exakt Greif bares, eine Mischkulan­z.“

Ab heute im Buchhandel: Wolfgang Maderthane­r, „Österreich. 99 Dokumente, Briefe und Urkunden“, Brandstätt­er Verlag, 50 €.

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Direktor Thomas Just und das Privilegiu­m Maius mit seinem beeindruck­enden Goldsiegel
 ??  ?? Herr über Österreich­s papierene Identität: W. Maderthane­r
Herr über Österreich­s papierene Identität: W. Maderthane­r
 ??  ?? Ein winziger Ausschnitt von 16 Kilometer Regalfläch­e in einem elfgeschoß­igen Speichertr­akt komplett aus Eisen
Ein winziger Ausschnitt von 16 Kilometer Regalfläch­e in einem elfgeschoß­igen Speichertr­akt komplett aus Eisen
 ??  ?? Auch solche Dinge lagern im Staatsarch­iv: Ein Wachs-Siegel und eine Kugel, Beweisstüc­k in einem Attentats-Akt
Auch solche Dinge lagern im Staatsarch­iv: Ein Wachs-Siegel und eine Kugel, Beweisstüc­k in einem Attentats-Akt
 ??  ?? Ein folgenschw­eres Dokument: Die von Kaiser Franz Joseph unterschri­ebene Kriegserkl­ärung von 1914
Ein folgenschw­eres Dokument: Die von Kaiser Franz Joseph unterschri­ebene Kriegserkl­ärung von 1914
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