Wo das Genie noch Genie sein darf
Ausstellung. Eine Mega-Schau in Paris huldigt dem frühen Picasso. 2019 wird sie in der Schweiz zu sehen sein
Manchmal sah es zuletzt so aus, als würde Pablo Picasso (1881–1973) der nächste große Mann sein, dessen Ruhm, wenn auch posthum, in der #MeToo-Bewegung zerbröselt. Die wenig schmeichelhaften Erzählungen seiner Enkelin Marina Picasso und neue Aufmerksamkeit auf das Schicksal von „Musen“wie Jacqueline Roque und Marie-Thérèse Walter, die an dem Maler mit dem Mega-Ego zerbrachen, haben am Status des „Jahrhundertgenies“genagt.
Im Pariser Musée d’Orsay aber kann Picasso uneingeschränkt strahlen: In der Schau „Picasso: Bleu et Rose“(bis 6.1.2019) geht es um die Frühzeit des Künstlers, die sogenannte blaue und rosa Periode von 1900 bis 1906.
Es ist eine BlockbusterAusstellung, wie man sie heute angesichts exorbitant gestiegener Kunstmarkt-Preise (und damit horrender Versicherungssummen) nur selten zu sehen bekommt. Dass die Schau aus Paris noch weiterreisen kann, ist beachtlich: Von 3. 2. bis 26. 5. 2019 wird das Ensemble in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel/CH zu sehen sein.
Von Anfang an
Gerade 19 Jahre war Picasso alt, als er – just in jenem Bahnhofsgebäude, das heute das Musée d’Orsay beherbergt – erstmals in der französischen Hauptstadt ankam.
Schritt für Schritt lässt sich in der Schau sein Weg verfolgen, Bild für Bild zeichnet der Parcours nach, wie der Künstler, der seine ersten Werke noch mit dem Namen „Pablo Ruiz Picasso“signierte, schlicht zu „Picasso“wurde.
Von Anfang an versuchte der Spanier, sich und seine Kunst unverwechselbar zu machen. Der triste Blick auf gestrandete Existenzen in Bars und Bordellen, der die Bilder der blauen Periode charakterisiert, wurde dabei bald ein Markenzeichen.
Anders als frühere Darstellungen wollen die Kuratoren jedoch zeigen, dass die blaue und die rosa Periode keine in sich geschlossenen Etappen darstellen: Innerhalb jener fruchtbaren Jahre, in denen der Künstler zwischen Paris und Barcelona hin- und hergerissen war, gab es auch Brüche, Experimentierphasen und Rückgriffe.
Der frühe Picasso war im Kern noch ein Künstler des 19. Jahrhunderts – der Einf luss von Henri ToulouseLautrec, dessen Plakatdesigns und Szenen des Pariser Nachtlebens Picasso mitunter nachahmte, wird dabei besonders deutlich.
Zugleich schloss Picasso ohne falsche Bescheidenheit an Heroen der spanischen Kunstgeschichte wie El Greco und Velázquez an. Später kamen Cézanne und Gauguin, aber auch der am klassischen Ideal orientierte Maler Pierre Puvis de Chavannes als Einflüsse dazu.
Dass sich der jugendliche Künstler in Werkphasen, die oft nicht länger als ein paar Wochen dauerten, diese Vorbilder aneignete und dabei noch originäre Meisterwerke schuf, unterstreicht zweifellos sein Genie.
Die Macho-Bohème
In der Bewunderung neigte man stets auch dazu, die Lebensumstände jener Zeit zu romantisieren: Die materiell armen, aber mit visionärem Geist gesegneten Männer, die sich die Nächte in den Bars und Varietés um die Ohren schlugen, prägten ein Modell der Bohème, das auch noch in „arm aber sexy“-Slogans von heute nachhallt.
Die Chance, derlei Sozialromantik neu zu betrachten, lässt die Schau jedoch ungenutzt verstreichen.
Immerhin erklärt ein Wandtext, dass Picasso das melancholische Bild „Frau mit Kind am Strand“(1902) seinem Arzt widmete, „als Dank dafür, dass er ihn von einer sexuell übertragbaren Krankheit geheilt hatte“. Beim Gemälde „Mädchen mit Blumenkorb“(1905), das kürzlich aus der Erbmasse des US-Milliardärs David Rockefeller um 115 Millionen US-$ verkauft wurde, er- fahren wir, dass es sich bei der nackt dargestellten Kindfrau vermutlich um eine Prostituierte handelte, die ihren jungen Körper am Montmartre feilbot: Die roten Blumen sollten auf den Verlust ihrer Jungfräulichkeit verweisen.
In einer Zeit, in der aller- orten Macht- und Geschlechterverhältnisse zerpflückt werden, stünde es einer Großausstellung gut an, hier die Frage nach den Zusammenhängen von Kunst, Machismo und der Beschönigung von Ausbeutung zumindest anzureißen. Die Schau tut das nicht, sondern zeigt als Draufgabe eine Reihe „erotischer“Skizzen, in denen Picasso seine Künstlerfreunde dabei darstellte, wie sie sich von Prostituierten oral oder sonst wie befriedigen ließen: Es sind gezeichnete Herrenwitze, der Wandtext aber schwafelt von Picassos Beschäftigung mit der „untrennbaren Verbindung zwischen Liebe und Tod.“
Auch Ausstellungsgestaltung ist ein Machtspiel, und die Leihgeber hätten ihre Schätze wohl nur ungern für eine kritische Dekonstruktion aus der Hand gegeben. Dass die National Gallery of Art in Washington das Gemälde „Les Saltimbanques“(Die Gaukler) von 1905, das Hauptwerk der rosa Periode, nicht reisen ließ, hinterlässt die einzige wirkliche Lücke im Parcours. Ansonsten kreiert die Verdichtung exemplarischer Bilder einen Raum, in dem sich Kunstgeschichte buchstäblich einatmen lässt. Das Hauptwerk der blauen Periode, „La Vie“(Das Leben) von 1903, bildet den Angelpunkt , von hier geht es zu einer Suche nach Ruhe und neuen „klassischen“Formen, zu Jünglingen und Harlekins sowie zu einer Obsession mit dem Motiv sich kämmender Frauen: Auf Letzteres war Picasso durch die erotische Harems-Darstellung „Das türkische Bad“von JeanAuguste Dominique Ingres (1862) gekommen.
Vor dem Kubismus
Bild für Bild werden in Picassos Variationen die Volumen spürbarer, die Figuren blockhafter: Der nächste große Wendepunkt, das Werk „Demoiselles d’Avignon“von 1907, wirft seine Schatten voraus. Am Ende der Schau ist das 19. Jahrhundert definitiv vorbei, man steht an der Kippe zur modernen Revolution. Die Schwelle zum 21. Jahrhundert wird in der Deutung und Bewertung des Phänomens Picasso allerdings nicht überschritten.