„Wir haben uns in eine missliche Lage manövriert“
Machtexpertin. Christine Bauer-Jelinek warnt vor Vorverurteilungen und ortet Verunsicherung auf beiden Seiten
Wie hat sich das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern durch #MeToo verändert?
#MeToo hat die Beziehung zwischen Frauen und Männern grundlegend verändert – leider nicht nur zum Guten. Auf der einen Seite ist es für Frauen nun einfacher, sich gegen Übergriffe zu wehren, und das ist zu begrüßen. Auf der anderen Seite ist im Alltagsverhalten eine tiefe Verunsicherung und ein Misstrauen auf beiden Seiten zu beobachten.
Besteht nach dem Fall Kavanaugh nicht die Gefahr, dass sich Frauen erst wieder nicht trauen, Belästigungen zur Anzeige zu bringen?
Frauen, die erst Jahrzehnte nach dem Geschehen an die Öffentlichkeit gehen, und das noch dazu, wenn der mutmaßliche Täter gerade Karriere macht, müssen damit rechnen, dass man ihre Glaubwürdigkeit anzweifelt. Zudem braucht es in einem Rechtsstaat Beweise. Frauen, die sich unmittelbar nach einem Übergriff an die ausreichend vorhandenen Stellen und Vertrauenspersonen wenden, haben heute bessere Chancen, dass ihnen geglaubt wird und dass Maßnahmen ergriffen werden.
Müssen Männer künftig Angst haben, alleine mit Frauen in einen Aufzug zu steigen?
Auch hier überlegen Männer wie in den USA, ob sie eine Kollegin im Auto zu einer Klausur mitnehmen sollen oder lassen die Türe vom Be- sprechungszimmer offen, um sich vor Missverständnissen, aber auch vor Falschbeschuldigungen zu schützen.
Müssen junge Männer fürchten, dass ihnen Fehlverhalten später zum Vorwurf gemacht wird?
Junge Männer wachsen mit einem anderen Selbstverständnis gegenüber Frauen auf. Aber ältere Männer fürchten zurzeit, dass ihnen ihre Jugendsünden zum Fallstrick werden könnten. Und wenn es um Belästigung, nicht um Straftaten geht, könnte es vermutlich fast jeden treffen. Wir haben uns aus dem besten Wollen, den Opfern zu helfen, in eine missliche Lage manövriert, denn natürlich kann bei der heutigen Stimmung der Vorwurf einer Frau den Mann den Job kosten, bevor seine Schuld erwiesen ist. Und natürlich werden sich reiche Männer mit den besten Anwälten zur Wehr setzen, selbst wenn sie schuldig sind.
Wirkt sich die aktuelle Debatte auf die Erotik zwischen Mann und Frau aus?
Die Anbahnung einer sexuellen Beziehung, der Flirt, lebt von Anspielungen und Zweideutigkeiten, von Witzen und Komplimenten. Das lässt sich nicht durch Regeln ändern, sondern nur durch klare Reaktionen und Antworten direkt in der Situation. Sehr wohl ist aber von Männern heute eine größere Sensibilität gefordert, um die Grenzen des Gegenübers wahrzunehmen und zu respektieren. Zudem zählt am Arbeitsplatz auch noch das Abhängigkeitsverhältnis, wir sind heute wachsamer gegenüber Machtmissbrauch.
Braucht es neue Regeln für ein respektvolles Miteinander?
Damit die Zusammenarbeit funktioniert, darf der Humor nicht völlig abgeschafft werden. Männer – und oft auch Frauen – brauchen eine klare, aber respektvolle Rückmeldung, nicht gleich eine öffentliche Aburteilung, um diese neuen Regeln zu lernen. Beide Geschlechter müssen mehr Selbstverantwortung pf legen. Zudem sollten die bestehenden Stellen für schwerwiegende Übergriffe bekannter gemacht werden. Unternehmen sollten nicht aus lauter Angst komplizierte Leitfäden entwickeln, die eine Atmosphäre der Anklage erzeugen, sondern etwa Trainings für den sensiblen, aber entspannten Umgang anbieten.