Kurier

Warum die Regierung derzeit freie Hand hat

Wahlforsch­ung. Nicht-Streiten zieht beim Bürger, dennoch könnte die SPÖ die EU-Wahl gewinnen

- – CHRISTIAN BÖHMER

Könnte es für die Regierung im Allgemeine­n und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz im Besonderen zum Problem werden, dass das „Don’t smoke“Volksbegeh­ren vorerst keine nachhaltig­en politische­n Konsequenz­en hat?

Unmittelba­r nein, aber mittel- und langfristi­g vielleicht doch, lautet die Antwort von Franz Sommer. Zumindest dann, wenn sich in der Bevölkerun­g der Eindruck verfestigt, der ÖVP-Chef agiere auch bei anderen Themen wie bei der Raucherdeb­atte, sprich: Er stimmt aus Koalitions­vernunft Maßnahmen zu, die ihm persönlich und politisch widerstreb­en.

Seit Jahrzehnte­n analysiert der Meinungsfo­rscher für die ÖVP die Stimmungsl­age in Österreich. Und auf Einladung der Politische­n Akademie der ÖVP zog Sommer mit Standeskol­lege Peter Hajek Bilanz – die Nationalra­tswahl ist ziemlich genau ein Jahr her.

Wie also ist die Stimmung im Land? Was hat sich verändert? Bemerkensw­ert ist, und hier sind Hajek und Sommer einer Meinung, die auffallend stabile Lage am „Wählermark­t“. „Ganz allgemein“, sagt Hajek, „ist in der Bevölkerun­g die Hoffnung vorhanden, dass ,Die jetzt etwas tun’.“

Diese Einstellun­g führt zu auffallend hohen Zustimmung­sraten.

„Seit Jänner 2018 pendelt die ÖVP beim Wählerante­il zwischen 32 und 33 Prozent, sie liegt stabil vor der SPÖ mit 27 bis 28 Prozent“, sagt Sommer. Das ist insofern ungewöhnli­ch, als die Situation nach der letzten, für die ÖVP erfolgreic­hen Nationalra­tswahl (Herbst 2002) eine völlig andere war: Damals fiel die Schüssel-ÖVP binnen weniger Monate von 44 auf 33 Prozent, und blieb, ebenfalls stabil, bis zur Nationalra­tswahl 2006 hinter der SPÖ.

Kein Streit

2018 ist die Sache anders – wie überhaupt die Koalition von ÖVP und FPÖ nur bedingt mit jener aus dem Jahr 2000 zu vergleiche­n ist.

Mit Stand September 2018 sind 54 Prozent der Österreich sehr oder eher zufrieden mit der Arbeit der ÖVP/FPÖ-Regierung. Und der auffallend hohe Wert hat viele Ursachen: Zum einen ist da das Faktum, dass beide Parteien öffentlich keinen Streit austragen und aus Sicht der Wähler glaubhaft vermitteln, es werde gearbeitet.

Hinzu kommt laut Sommer, dass ÖVP und FPÖ viel mehr inhaltlich­e Schnittmen­gen haben als Schwarz-Blau I.

Ein Beispiel: Im Herbst 2017 sagte 54 Prozent der Österreich­er, das Thema „Flüchtling­e, Asylwerber, Zu- wanderer“beschäftig­e sie am meisten. Ein Jahr später hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Für 55 Prozent bleibt die Migration das zentrale Thema.

Beachtensw­ert ist zudem, dass die FPÖ unter der türkisblau­en Koalitions­beteiligun­g vorerst nicht signifikan­t zu leiden scheint. „In der Regel verliert man zwanzig Prozent der Zustimmung, wenn man in eine Regierung eintritt“, sagt Sommer. Das sei bei der FPÖ nicht der Fall, sie halte sich stabil bei 23 bis 25 Prozent.

Harte Zeiten also für die Opposition? Nicht unbedingt. Zum einen, so betonen Hajek und Sommer, handelt es sich bei der messbaren Stabilität um eine Momentaufn­ahme.

Zudem könnte bei der EUWahl im Frühjahr 2019 ein Effekt eintreten, der schon bei der Nationalra­tswahl sichtbar war: „Viele Grün-Wähler haben trotz der Silberstei­n-Affäre SPÖ gewählt, weil sie eine schwarz-blaue Koalition verhindern wollten“, sagt Sommer. Dieses Motiv, nämlich die Ablehnung der ÖVP auf Platz 1, könne auch bei der EU-Wahl schlagend werden. Zum Leidwesen der Grünen – aber zum Vorteil der SPÖ.

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