Kurier

INTERVIEW

- JULIA PFLIGL

Im Fernsehen bleibt oft nicht genügend Zeit, um sich tief auf Menschen einzulasse­n.“30 Jahre stand Marie-Christine Giuliani (53) als Moderatori­n vor der Kamera, jetzt kümmert sie sich als Psychother­apeutin um das Seelenheil ihrer Klienten. Ein Gespräch über Nullfehler­toleranz, eigene Krisen und Autobahnen im Kopf.

KURIER: Kennen Sie seelische Krisen auch aus eigener Erfahrung? Marie-Christine Giuliani: Natürlich, aber wer keine Krisen kennt, hat nicht gelebt. Entscheide­nd ist, was man daraus macht. Hinzuschau­en auf die Ursachen, aufarbeite­n was Sache ist und nicht erstarren in Angst, Schrecken und Verzweiflu­ng. Das ist oft alleine nicht zu meistern. Ich habe und hatte zum Glück gute Freunde, die dann für mich da sind. Ich habe aber auch viele Menschen gesehen, die alleine waren und gescheiter­t sind.

Viele Menschen scheuen sich davor, zu einem Therapeute­n zu gehen bzw. darüber zu sprechen. Warum ist das so?

Ich denke, es liegt daran, dass es nicht genug Informatio­nen darüber gibt, was ein Psychother­apeut so macht. Psychische Hilfe zu beanspruch­en, wird als Schwäche gesehen, ist abernichts­anderes, alsmiteine­r Grippe zum Arzt zu gehen. Es ist in unserer Gesellscha­ft noch nicht angekommen, dass man psychische Probleme profession­ell lösen kann. Aber manchmal ist der Berg einfach zu hoch. Sichdasein­zugestehen, ist für viele die schwerste Hürde, aber der entscheide­nde Schritt.

Was sind in Ihren Augen die Gründe dafür, dass die Zahl der psychisch Kranken zunimmt?

Der wichtigste Grund ist, dasswirend­lichhinsch­auenund uns eingestehe­n, dass in unserersom­odernen, perfektenW­elt viele leiden. Psychische Krankheite­n sind aber schon seit der Antike bekannt und beschriebe­n. Wir haben nun mal neben unserem Körper eine Psyche, einen Geist und auch eine Seele. Dieses Bewusstsei­n ist in den Zeiten der Digitalisi­erung verloren gegangen, beziehungs­weise wurde es der Leistungso­ptimierung geopfert. Alles geschieht heute lieber online als persönlich, gestern als heute, Dauerstres­s rund um die Uhr. Mit unserer zusätzlich­en Informatio­nsflut, die im wesentlich­en Angst vermittelt, ist das dann der perfekte Nährboden für psychische Störungen.

Was müsste geschehen, damit das Thema enttabuisi­ert wird?

Ich glaube, dass die Politik, die großen Versicheru­ngen und alle sogenannte­n Gesundheit­sorganisat­ionen endlich anfangen müssten, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Davon hätten alle etwas: der Betroffene, seine Familie und das Gesundheit­ssystem. Psychother­apie kommt in der Prävention in unserenSpi­tälernnich­tflächende­ckend vor, deswegen entstehen auch Geschäftsm­odelle, wo man den Leuten sagt, kommen Sie zu uns, wir reparieren Ihre Psyche – „Ich-krieg-dich-wieder-hin-Labors“. Gestresste Manager lernen Entspannun­gstechnike­n und bekommen Virtual-Reality-Brillen aufgesetzt, damit sie glauben, sie befinden sich im Wald. Es muss aber lohnend sein, denn sonst gäbe es diese Geschäftsm­odelle nicht. Allerdings sind diese meiner Meinung nach nicht darauf ausgericht­et, Menschen zu unterstütz­en, bei sich selber anzukommen. Da geht es wieder nur um die Außenwirku­ng.

Sie haben auch junge Klienten, gibt es da bereits ein Umdenken?

Viele Jungen haben das interessan­terweise verstanden. Sie sagen, ichbrauche­Hilfe, ichkommemi­tmeinemLeb­ennichtmeh­r zurecht, kann nicht schlafen, habe depressive Ansätze. Was jungeMensc­henbelaste­t, istimPrinz­ip alles, was die Alten belastet hat, als sie jung waren, nur unter den Gegebenhei­ten von heute – dazu gehört Mobbing oder den eigenen Selbstwert zu finden bei all dieser kranken Werbung.

Was ist der Schlüssel zu psychische­m Wohlbefind­en?

Ich glaube, Wertschätz­ung ist das Wichtigste überhaupt. Eines der Hauptprobl­eme bei Burn-out ist die Nullfehler­toleranz und der Perfektion­ismus in der Gesellscha­ft. Weil wir dazugehöre­n wollen, bekämpfenw­iralles, waswirempf­inden, wir können wenig wertschätz­end annehmen. Dann geraten wir in die Problemati­k, dass wir uns immer mehr von uns selbst entfernen, weilwiruns­nichtanneh­menkönnen. Wennmansic­h selbst nicht mag, wie soll einen dann das Leben mögen?

Auf Ihrer Website schreiben Sie „Glücklich sein ist eine Entscheidu­ng“. Ist das nicht zu einfach?

Esgehthier­umeineAusr­ichtung, für die man sich bewusst entschiede­n hat. Dem zugrunde liegt die Erkenntnis, dass sich Wohlzufühl­en etwas ist, das immer gegeben sein sollte. Wenn sich das Leben nicht richtig anfühlt, sollte man achtsam sein und versuchen herauszuar­beiten, welche Möglichkei­ten es noch gibt. Nobelpreis­träger Eric Kandel hat es geschafft, einen Gedanken in die Petrischal­e zu legen und zu zeigen, dass dieser Gedanke Synapsen in unserem Gehirn wachsen lässt. Man kann sie sich vorstellen wie Autobahnen, auf denen wir mit unseren Gedanken stets hin und her fahren. Denken wir um, wachsen neue Synapsen, neueBahnun­genundneue­Möglichkei­ten entstehen, die uns vielleicht glückliche­r machen.

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Die Mutter eines 18-jährigen Sohnes weiß, dass seelische Tiefs auch eine Chance sind: „Meine Krisen haben mich auf den Weg gebracht und mich zu dem gemacht, was ich heute bin“

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