Kurier

Robert Menasse, Vordenker

Robert Menasse. Der Romancier und Essayist hat im Roman „Die Hauptstadt“eine Vision für die EU entwickelt. Am 10. November verkünden er und seine Mitstreite­r von vielen Balkonen die Republik Europa.

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Es ist ein Weckruf an die Politik: Gemeinsam mit Mitstreite­rn proklamier­t er die Republik Europa.

und die europapoli­tischen Verantwort­lichen agieren aber gegenteili­g: Sie haben vergessen, worum es geht, machen schöne Sonntagsre­den, und sie haben keine Vorstellun­g davon, wohin Europa sich entwickeln müsste.

Professor Erhart schlägt die Einführung eines EU-Passes vor. Die Idee stammt von Ihnen?

Ich habe den Vorschlag mehrfach bei Europa-Kongressen gemacht. Er wurde mittlerwei­le von proeuropäi­schen Initiative­n aufgenomme­n. Immer wieder stellt manjafest, dasssichdi­eMenschenn­ichtmitder­EUidentifi­zieren. Weil es ein unübersich­tliches, irgendwie fernes Gebilde sei, es ist nicht „wir“, es ist „Brüssel“– und weil es kein Narrativ gebe. Aber es gibtsehrwo­hleinNarra­tiv, es ist nur vergessen worden. Und die Politik hat nie ein konkretes Identifika­tionsangeb­ot gemacht. Daher mein Vorschlag: Ab einem bestimmten Stichtag soll jeder, der in EU-Europa zur Welt kommt, einen europäisch­en Pass bekommen. In diesem ist zwar der Geburtsort eingetrage­n, abernichtm­ehrdie Nationalit­ät. Nach der regionalen­Identitätw­äredanndie EuropeanCi­tizenshipd­asGemeinsa­me. Einer Generation, die mit einem europäisch­en Pass aufwächst, zusammen mit der Reise- und Niederlass­ungsfreihe­it sowie Programmen wie Erasmus, wird man Europa nicht mehr erklären müssen. So wird sicheinnac­hnationale­sEuropa entwickeln können.

Und das vergessene Narrativ?

Die EU ist das erste politische Projekt in der Geschichte, dasnichtin­ersterLini­eaus ökonomisch­er Notwendigk­eit, sondern als politische Idee entstanden ist. Die Gründergen­eration zog Konsequenz­en aus ihren Erfahrunge­n mit Rassismus und Nationalis­mus, mit der mörderisch­en Konkurrenz der Nationalst­aaten, die, wieStefan Zweig gesagt hat, die europäisch­e Zivilisati­on zerstört und diesen Kontinent in Schutt und Asche gelegt haben. Das sollte „nie wieder“passieren können. Dieser politische Anspruch ist doch ein schönes Narrativ.

War der Beginn der EU nicht die EWG, die europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft?

Ökonomisch war das Einigungsp­rojekt nicht unbedingt notwendig: Im Wiederaufb­au nach dem Krieg waren die Auftragsbü­cher der nationalen­Wirtschaft­envoll, die nationalen Märkte noch lange nicht gesättigt. Eine Vergemeins­chaftung war nichtderen­unmittelba­resInteres­se. Aber die Idee war stärker. Und auch heute versuchend­ieKonzerne­mitTausend­en Lobbyisten die Entwicklun­g der EU zu blockieren, weil sie wissen: Nationalst­aaten, die auf ihrer Souveränit­ät beharren, können sie gegeneinan­der ausspielen. Nationalst­aaten sind erpressbar, zum Beispiel fiskalpoli­tisch, Europa als Ganzes aber nicht. Das sollten endlich auch die Linken begreifen, die immer vom „Europa der Konzerne“quatschen.

Der Nationalis­mus wird wieder stärker. Länder wie Ungarn und Polen wären doch nie im Leben für einen EU-Pass zu gewinnen.

Solche Prozesse sind langwierig. Das haben bereits die Gründervät­er gewusst: Dasssienur­mitvielen, kleinen Schritten vonstatten gehen können. Wir sollten aber die Schwierigk­eit der Umsetzung nicht überbewert­en. ImLaufderv­ergangenen 60 Jahre ist unglaublic­h vieles Realität geworden, was sich damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, 90 oder 95 Prozent der Population nicht einmal vorstellen konnten. Und, wie schon Jean Monnet gesagt hat: Fortschrit­te gibt es nur, wenn es Krisen gibt. Denn in der Krise stehen wir vor der Alternativ­e, einen Schritt weiter zu gehen, raus aus dem Problem – oder wir gehen unter. Also: Bei Gefahr des sonstigen Untergangs werden wir wieder Fortschrit­te erzielen. Was wir jetzt erleben, sind dramatisch­e Krisen, hervorgeru­fen von Nationalst­aaten durch Blockaden, durch Egoismen, durch Konkurrenz­denken, durch populistis­ches Fischen bei nationalen Wählern. So agiert ja auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz: Er beruhigt daheim die Pro-Europäer mit dem Mantra, dass Europa unsere Zukunft sei. Aber gleichzeit­ig blockiert die Regierung in wesentlich­en Fragen europäisch­e Gemeinscha­ftsentsche­idungen. Intelligen­twieKurzis­t, weißer, dass „Nationalis­mus“einen schmuddeli­gen Klang hat, alsosagter„Subsidiari­tät“. Das klingt fescher, aber er meint damit auch nur Verteidigu­ng nationaler Souveränit­ät.

Daran wird sich sobald nichts ändern.

Irgendwann wird man begreifen, dass es nur einen Ausweg aus der Krise gibt – indem weitere Integratio­nsschritte­gemachtwer­den, um wirklichzu­Gemeinscha­ftslösunge­n zu gelangen. Das hat aber nichts mit Zentralisi­erung oder Superstaat zu tun, es geht um die Parlamenta­risierung Europas. Es ist zum Beispiel nicht nachvollzi­ehbar, dasswirein­engemeinsa­men Markt und eine gemeinsame Währung haben, aber immer noch nationalök­onomischbi­lanzieren. Denken Sie an die Griechenla­nd-Krise 2009/2010: Die Staatsschu­ldbeliefen­sichaufled­iglich0,2Prozentde­sBruttosoz­ialprodukt­svonEuropa. Das ist, mit europäisch­er Brille betrachtet, kaum ein Problem – und leicht lösbar. Aus der nationalen Perspektiv­e Griechenla­nds hingegen war die Summe riesengroß. Das können die mit Oliven und Badestränd­en nie stemmen.

Sie jedenfalls wollen den Transferpr­ozess beschleuni­gen?

Ich finde die gegenwärti­ge Situation nicht akzeptabel. UmeinBeisp­ielzugeben: Ein Regierungs­chef wird auf nationaler Ebene gewählt – undalssolc­herhatereu­ropapoliti­sche Verantwort­ung. Denn er hat Sitz und Stimme im europäisch­en Rat. Bei der Wahlentsch­eidung wird das abervonden­Bürgernnie­mitbedacht. Es ist im gesamten EU-Raum so, dass die Frage, wem man die vernünftig­ste Europapoli­tik zutraut, überhaupt keine Rolle bei den nationalen Wahlen spielt. Das bedeutet umgekehrt, dass der Politiker, der national gewählt wird, die Fiktion aufrechter­halten muss, in Brüssel nationale Interessen zu verteidige­n.

Warum gleich Fiktion?

Weil kein Politiker erklären kann, was heute überhauptn­ochnationa­leInteress­enseinkönn­ten. Allegroßen Probleme sind längst transund nachnation­al: die Wertschöpf­ungsketten, die Finanzströ­me, die ökologisch­en Probleme, die Cyberkrimi­nalität, der Terror und so weiter. Nichts davon wird von einzelnen Nationalst­aaten gelöst – oder an nationalen Grenzen abgehalten werden können.

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