Heute Ruhetag
Die Gegenwart ist laut, schnell und fordernd, sie zerrt an den Kräften, sie zieht in die eine Richtung und gleichzeitig in die entgegengesetzte, sie ist ungeduldig, sievergibtnichts, sieistkalt und urteilend und undankbar. Die Gegenwart ist manchmal schwer auszuhalten. Und man kannjedenverstehen, derkeine Lust mehr auf sie hat, der sich dem täglichen Kampf nicht mehr gewachsen fühlt, der flüchtet in Serien, Musik und Filme, in YouTube-Videos und Onlineforen. Oder in die Fotosammlung vom vergangenen Weihnachtsfest.
So wie die Patientin im Wartezimmer beim Lungenfacharzt vor ein paar Tagen. Sie hatte eines dieser Handymodelle mit extra großem Bildschirm und vielleicht lag es daran, dass die Patienten, die hinter ihr standen und neben ihr saßen, einer nach dem anderen, ihre Zeitschriften weglegten, ihre Telefone in den Taschen verschwinden ließen und ganz ungeniert auf ihre Fotos starrten. Auf die beiden Mädchen, die da zu sehen waren, vielleicht 6 und 8 Jahre alt, vielleicht auch jünger. Die sich unter dem Weihnachtsbaum balgten und Lametta um den Hals geschlungen hatten, die auf die Kerzen blickten und in die Kamera lachten und dabei ihre Zahnlücken zeigten. Auf manchen Bildern verschwommen und unscharf, auf manchen harmonisch lächelnd, so wie auf Grußpostkarten, so kitschig, dass es beinah schon komisch war. Und ein alter Mann lachte dann auch wirklich laut los, sein Atem rasselte undpfiffundmanwusstenicht, ob er noch lachte oder schon hustete.
Ungeniertes Gaffen
Die Patientin mit den Weihnachtsbildern kümmerte das nicht. Esstörtesienicht, dassalle gafften, ungeniert auf ihr Handy blickten, dass sie sich ihre Familie ausliehen für ein paar Minuten, um nicht daran denken zu müssen, was gerade im Hier und Jetzt geschah und in den kommenden Stunden vielleicht noch geschehen würde. Als der Arzt die Patientin aufrief, wurde der Bildschirm schwarz, die Bilder verschwanden. Sie rückte ihre bunte Häkelmütze zurecht, die zur Seite gerutscht war. Darunter war ihr kahler Kopf zum Vorschein gekommen, nur kurz, aber der Moment war ihr scheinbar unangenehm. Die anderen wandten sich taktvoll ab, blickten zur Seite, nahmen wieder ihre Zeitschriften zur Hand und sahen auf ihre Handys. Während der Zeit im Wartezimmer hatte es geregnet. Draußen auf der Straße hatte sich das Wasser gesammelt in den Unebenheiten des Asphalts. Und wenn man mit den Turnschuhen hineintrat, unterm Arm den Befund in einem großen Kuvert, konnte man dem weißen Stoff dabei zusehen, wie er sich langsam vollsogundgrauwurdewieder Himmel und die Straße, die im selben Hellgrau leuchteten, als hätte sie jemand vertauscht.
Manmussnichtimmeralles von sich erzählen. Was man für sich behält, gehört einem ganz und gar. Es tut gut, eine Pause von der Gegenwart zu machen. SichineineandereWirklichkeit hineinzudenken, eine, die schon lange vergangen ist oder noch vor einem liegt. Eine, die nicht jetzt ist. Man kann nur geben, was man hat. Man kann niemanden retten. Man kann nur auf sich selbst achtgeben. Morgen kommt sie wieder, die Gegenwart. Dann kann man weitermachen, seine Stimme erheben, argumentieren, streiten, kämpfen. Abernichtheute. Heute ist Ruhetag.