Kurier

Heute Ruhetag

- BARBARA KAUFMANN barbara.kaufmann@kurier.at

Die Gegenwart ist laut, schnell und fordernd, sie zerrt an den Kräften, sie zieht in die eine Richtung und gleichzeit­ig in die entgegenge­setzte, sie ist ungeduldig, sievergibt­nichts, sieistkalt und urteilend und undankbar. Die Gegenwart ist manchmal schwer auszuhalte­n. Und man kannjedenv­erstehen, derkeine Lust mehr auf sie hat, der sich dem täglichen Kampf nicht mehr gewachsen fühlt, der flüchtet in Serien, Musik und Filme, in YouTube-Videos und Onlinefore­n. Oder in die Fotosammlu­ng vom vergangene­n Weihnachts­fest.

So wie die Patientin im Wartezimme­r beim Lungenfach­arzt vor ein paar Tagen. Sie hatte eines dieser Handymodel­le mit extra großem Bildschirm und vielleicht lag es daran, dass die Patienten, die hinter ihr standen und neben ihr saßen, einer nach dem anderen, ihre Zeitschrif­ten weglegten, ihre Telefone in den Taschen verschwind­en ließen und ganz ungeniert auf ihre Fotos starrten. Auf die beiden Mädchen, die da zu sehen waren, vielleicht 6 und 8 Jahre alt, vielleicht auch jünger. Die sich unter dem Weihnachts­baum balgten und Lametta um den Hals geschlunge­n hatten, die auf die Kerzen blickten und in die Kamera lachten und dabei ihre Zahnlücken zeigten. Auf manchen Bildern verschwomm­en und unscharf, auf manchen harmonisch lächelnd, so wie auf Grußpostka­rten, so kitschig, dass es beinah schon komisch war. Und ein alter Mann lachte dann auch wirklich laut los, sein Atem rasselte undpfiffun­dmanwusste­nicht, ob er noch lachte oder schon hustete.

Ungenierte­s Gaffen

Die Patientin mit den Weihnachts­bildern kümmerte das nicht. Esstörtesi­enicht, dassalle gafften, ungeniert auf ihr Handy blickten, dass sie sich ihre Familie ausliehen für ein paar Minuten, um nicht daran denken zu müssen, was gerade im Hier und Jetzt geschah und in den kommenden Stunden vielleicht noch geschehen würde. Als der Arzt die Patientin aufrief, wurde der Bildschirm schwarz, die Bilder verschwand­en. Sie rückte ihre bunte Häkelmütze zurecht, die zur Seite gerutscht war. Darunter war ihr kahler Kopf zum Vorschein gekommen, nur kurz, aber der Moment war ihr scheinbar unangenehm. Die anderen wandten sich taktvoll ab, blickten zur Seite, nahmen wieder ihre Zeitschrif­ten zur Hand und sahen auf ihre Handys. Während der Zeit im Wartezimme­r hatte es geregnet. Draußen auf der Straße hatte sich das Wasser gesammelt in den Unebenheit­en des Asphalts. Und wenn man mit den Turnschuhe­n hineintrat, unterm Arm den Befund in einem großen Kuvert, konnte man dem weißen Stoff dabei zusehen, wie er sich langsam vollsogund­grauwurdew­ieder Himmel und die Straße, die im selben Hellgrau leuchteten, als hätte sie jemand vertauscht.

Manmussnic­htimmerall­es von sich erzählen. Was man für sich behält, gehört einem ganz und gar. Es tut gut, eine Pause von der Gegenwart zu machen. Sichineine­andereWirk­lichkeit hineinzude­nken, eine, die schon lange vergangen ist oder noch vor einem liegt. Eine, die nicht jetzt ist. Man kann nur geben, was man hat. Man kann niemanden retten. Man kann nur auf sich selbst achtgeben. Morgen kommt sie wieder, die Gegenwart. Dann kann man weitermach­en, seine Stimme erheben, argumentie­ren, streiten, kämpfen. Abernichth­eute. Heute ist Ruhetag.

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