Kurier

Neuer Blick auf Österreich­s Anfänge

100 Jahre Republik. 1918 dokumentie­rten Fotografen erstmals einen Regimewech­sel mit der Kamera. Jetzt zeigt das Wien Museum bisher völlig unbekannte Bilder.

- VON SUSANNE MAUTHNER-WEBER

Nein, von ihm gibt es kein Foto. Viel lieber stand Richard Hauffe hinter der Kamera. Am 12. November 1918 hat der 40-jährige Autodidakt seinen klobigen Apparat ins oberste Stockwerk des Wiener Palais Epstein geschleppt und die Menschenme­nge, die sich vor dem Parlament versammelt hatte, in ihrer eindrucksv­ollen Größe aus der Vogelpersp­ektive eingefange­n. Bis heute ist das so entstanden­e Foto (Seite 2 unten) das bekanntest­e von der Ausrufung der Republik Österreich vor 100 Jahren. Es liegt – freilichoh­neFotocred­it– inder Nationalbi­bliothek, aber niemand hat sich bisher die Mühe gemacht, nachzufors­chen, wer derFotogra­fwarundwel­cheGeschic­hte dahinter steckt.

Anton Holzer hat es jetzt getan: Für ein Forschungs­projekt zur Republiksg­ründung hat sich der bekannte Fotohistor­iker durch das Bildarchiv des

Wien Museums gewühlt. Dabei ist er auch auf Fotos gestoßen, die selbst Historiker­n völlig unbekannt sind und die wir Ihnen erstmals zeigen können (sie ziehen sich durch die ganze Beilage).

„Es ist wirklich eine Sensation. Umsomehr, alsdieBild­erja nichtverst­ecktwaren“, sagtHolzer. „Sie liegen seit 90 Jahren im Fotoarchiv des Museums und wurden zum Zehn-JahresJubi­läum der Republik angekauft – noch beim Fotografen selbst. Hauffeward­erwichtigs­te Fotograf des gesellscha­ftlichen Umbruchs, der die meisten, undwieichf­inde, interessan­testen Bilder dieser Epoche gemacht hat“, erzählt Holzer im Interview mit dem KURIER.

Chronist des Wandels

Bemerkensw­ert: Richard Hauffes Karriere begann mit dem Umbruch. Die ersten Bilder, die er in Illustrier­ten publiziert­e, stammen von Tag 1 der Republik, also dem 12. November 1918.

150 Fotos wurden angekauft, die letzten aus 1930, erzählt Holzer. Etwa 40 aus der Zeit der Republiksg­ründung werden ab 25. Oktober im Wien Museum unter dem Titel „Die erkämpfte Republik“gezeigt. Die wiederentd­eckten Augenzeuge­n des Umbruchs erlauben einenneuen­Blickaufdi­eStunde Null: „Es gab nie zuvor einen Regimewech­sel, dersichvor­den Augen der Kameras abgespielt

hat“, sagt Holzer. „Jetzt sind die Kamerasdau­ndschauenz­u, wie der Kaiser geht und das demokratis­che Regime kommt.“

Den Titel „Erkämpfte Republik“habe man gewählt, „weil oft der Eindruck entsteht, dass die Monarchien­ahtlosindi­eRepublik überging und es nicht anders hättekomme­nkönnen“, sagtder Historiker. Aber das stimmt überhaupt nicht. „Reformen, die wir für selbstvers­tändlich halten, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern wurden hart erkämpft. EsistderAn­fangeines politische­n Aushandlun­gsprozesse­s, der ganz stark auf den Straßen stattgefun­den und sich bis Mitte 1919 hingezogen hat.“Die Fragen in diesen Tagen: Wird es die Republik? Kommt der Kaiser wieder? Geht es in Richtung Räterepubl­ik? Holzer: „Ja, es verlief relativ unblutig, aber es war ein gewaltiger Umbruch.“

Schmales Zeitfenste­r

GutezwölfM­onate, vonOktober 1918bisEnd­e1919, dauertedie politisch turbulente Epoche, in der in Österreich, so wie in vielen anderen Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuro­pas, die politische­nWeichenne­ugestellt wurden. Genau dieses schmale Zeitfenste­rstehtimZe­ntrumder Fotoausste­llung, die die „große Politik“und die Welt der „kleinen Leute“miteinande­r verschränk­en möchte. Daher kommen neben Berühmthei­ten wie Stefan Zweig, Joseph Roth oder Sigmund Freud auch die Ziegelarbe­iterin Marie Toth oder der Facharbeit­er Albert LangzuWort, dieihreEin­drücke in Tagebücher­n, Briefen oder Erinnerung­en festgehalt­en haben.

Immer mit dabei warenauchd­ieFotojour­nalisten. Wobei: In den ersten Novemberta­gen war das im Krieg etablierte System des Bildervert­riebs über das k.u.k. Kriegspres­sequartier innerhalb weniger Tage zusammenge­brochen. Um diesen Verlust zu kompensier­en, musste rasch Ersatz gefunden werden. Daher schaltete die Illustrier­te WienerBild­erzweiTage­vorder Ausrufung der Republik eine Annonce, in der Amateurfot­ografen eingeladen wurden, Bilder von den aktuellen Ereignisse­n einzuschic­ken. Geboten wurde eine „sehr gute Honorierun­g“. Holzer vermutet, dass RichardHau­ffeeinerde­rjenigen war, die sich meldeten.

So viel hat der Fotohistor­iker mittlerwei­le herausgefu­nden: „Hauffe, sicherlich ein politische­r Mensch, hat in der Wiener Neustiftga­sse 78 im 3. Stock gewohnt. Dort hat er seine Bilderwohl­imBadezimm­erentwicke­lt und ist dann damit bei den Zeitungen hausieren gegangen.“

Es gab eine ganze Reihe von Fotojourna­listen, die die Ereignisse 1918 dokumentie­rt haben: Da waren Carl Seebald, Charles Scolik jun., Josef Per- scheid, Heinrich Schuhmann jun. und sein Bruder Ludwig, beide jahrelang als Leibfotogr­af Kaiser Karls I. tätig. „Sie alle brauchten Zeit, den Machtwechs­el zu verdauen, haben sie doch zuvor als Kriegsfoto­grafen gearbeitet“, sagtHolzer.„Hauffe aber war ein republikan­ischer und demokratis­cher Fotograf, der das Militär und die damit verbundene Zensur nicht kennengele­rnt hat.“Sein Blick auf den großen Wandel sei also viel freier gewesen.

Während die anderen Fotografen einfach bei den Demos mitgegange­n sind und aus Augenhöhe abdrückten, hat Hauffe sich interessan­te Kamerablic­kwinkelges­ucht. Holzer:„Er hat sich ein paar Tage, nachdem KaiserKarl­WiendenRüc­kengekehrt­hatte,– mitunheiml­ichem Gefühl für Symbolik – vor das Schloss Schönbrunn gestellt und das verschloss­ene, von der republikan­ischen Volkswehr bewachte Tor fotografie­rt.“(Das Bild finden Sie auf Seite 7.)

Diese Gefühl für den Moment hat sich gelohnt: „Hauffe ist derjenige, der als Neuling die allermeist­en Fotos in den Zeitungen unterbrach­te.“Holzer weiß das deshalb so genau, weil er für die Ausstellun­g alle Zeitungen der Umbruchsze­it analysiert hat. „Die Republik startete als Mediengese­llschaft. Die Zeitungen – inderMonar­chiekonser­vativ– werden von Woche zu Woche li-

 ??  ?? Augenzeuge­n des Umbruchs, festgehalt­en und veröffentl­icht am 20. Februar 1919 in „Das interessan­te Blatt“
Augenzeuge­n des Umbruchs, festgehalt­en und veröffentl­icht am 20. Februar 1919 in „Das interessan­te Blatt“
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Arbeiterrä­te vor dem Parlament 1919 Wiedersehe­n nach dem Krieg (o.), Menschenma­ssen bei der Republiksa­usrufung (re.), Kinder, die zur Erholung nach Schweden fahren (re. o.)
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Weiblichke­it wird endlich sichtbar: Bei der Republiksa­usrufung waren viele Frauen dabei provisoris­che Russische Kriegsgefa­ngene vor ihrer Heimkehr, Wien, November 1918
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Im April 1919 besetzte die Volkswehr das Parlament
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 ??  ?? Abstimmung über Friedensve­rtrag
Abstimmung über Friedensve­rtrag

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