Europa mit gebrochenem Flügel
Am Wegrand versteckt im Gras ist ein Vogel gelegen. Einer seiner Flügel war sichtbar verletzt. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht abheben. Meine kleine Tochter hat das verletzte Tier geborgen und dann mit Hilfe eines fachkundigen Freundes den Flügel versorgt. Ein Vogel fliegt nicht mit einem Flügel.
Das gilt auch für Europa. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, eine Initiative für gute Pflege, Bildung oder Kindergesundheit. All das wären doch beste Themen für eine EU-Präsidentschaft. Und doch kommen sie zur Zeit nicht vor. Europa kann nur dann funktionieren, wenn beide Seiten gleichermaßen berücksichtigt werden – die wirtschaftliche Seite und die soziale. In Europa sind aktuell 20 Millionen Menschen von sozialer Not betroffen, darunter viele Kinder.
Nachhaltigkeit
Ein Vogel f liegt nicht mit einem Flügel. Erstens sollten Sozialschutz und soziale Rechte mit den Grundfreiheiten des Binnenmarkts gleichrangig behandelt werden. Zweitens sind gemeinsame Investitionen im Bildungsund Pflegebereich sinnvoll. Alle Studien zeigen, Investitionen in soziale Dienstleistungen zahlen sich aus. Wenn wir Geld in die Hand nehmen und in Kindergärten, Pflege, Integrationsmaßnahmen und Bildung investieren, kommt das nicht nur den Menschen zu Gute, die die Dienste brauchen, sondern es kommt für die gesamte Gesellschaft zurück. Zum einen in Form von Steuern und Sozialversicherungen – so hat das WIFO erst kürzlich errechnet, dass 70 Prozent der Ausgaben für Pflege und Betreuung via Steuern und Sozialversicherungen wieder zurück an die öffentliche Hand kommen. Zum anderen in Form von geringeren zukünftigen Aufwendungen, denn Bildung und Integrationsmaßnahmen schützen vor Armut und Arbeitslosigkeit. Durch Investitionen in soziale Dienstleistungen kann man Folgekosten niedrig halten. Drittens müssen Entscheidungen in Europa einen „sozialen Stresstest“bestehen sowie der Einhaltung der europäischen Charta der Grundrechte unterzogen werden. Werden diese verletzt, müssten die vorgeschlagenen Maßnahmen zurückgenommen oder andere entwickelt werden. Viertens: Wir sollten voneinander lernen. Jedes Land kann etwas gut. Dänemark weiß mit seinen „family health nurses“Soziales und Gesundheit zu verbinden, Holland arbeitet mit einem Chancenindex, um benachteiligte Schulstandorte zu stärken, Deutschland hat mit den „Frühen Hilfen“ein Angebot für Kleinkinder aufgebaut, Österreich hat mit dem sozialen Wohnbau und der dualen Ausbildung europaweit „good practice“vorzuweisen.
Zur Umsetzung all dieser Schritte könnten wir einen Konvent für ein soziales Europa einberufen. Dieser Konvent hat die Aufgabe, Vorschläge zu entwickeln, wie in der EU Sozialschutz und soziale Rechte gestaltet, gesichert und zukunftsfähig weiterentwickelt werden können. Damit der Vogel seine Flügel ausbreiten kann und fliegt.
Mag. Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie und Lehrbeauftragter an der Fachhochschule in Wien.