Kurier

Europa mit gebrochene­m Flügel

- VON MARTIN SCHENK

Am Wegrand versteckt im Gras ist ein Vogel gelegen. Einer seiner Flügel war sichtbar verletzt. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht abheben. Meine kleine Tochter hat das verletzte Tier geborgen und dann mit Hilfe eines fachkundig­en Freundes den Flügel versorgt. Ein Vogel fliegt nicht mit einem Flügel.

Das gilt auch für Europa. Die Bekämpfung der Jugendarbe­itslosigke­it, eine Initiative für gute Pflege, Bildung oder Kindergesu­ndheit. All das wären doch beste Themen für eine EU-Präsidents­chaft. Und doch kommen sie zur Zeit nicht vor. Europa kann nur dann funktionie­ren, wenn beide Seiten gleicherma­ßen berücksich­tigt werden – die wirtschaft­liche Seite und die soziale. In Europa sind aktuell 20 Millionen Menschen von sozialer Not betroffen, darunter viele Kinder.

Nachhaltig­keit

Ein Vogel f liegt nicht mit einem Flügel. Erstens sollten Sozialschu­tz und soziale Rechte mit den Grundfreih­eiten des Binnenmark­ts gleichrang­ig behandelt werden. Zweitens sind gemeinsame Investitio­nen im Bildungsun­d Pflegebere­ich sinnvoll. Alle Studien zeigen, Investitio­nen in soziale Dienstleis­tungen zahlen sich aus. Wenn wir Geld in die Hand nehmen und in Kindergärt­en, Pflege, Integratio­nsmaßnahme­n und Bildung investiere­n, kommt das nicht nur den Menschen zu Gute, die die Dienste brauchen, sondern es kommt für die gesamte Gesellscha­ft zurück. Zum einen in Form von Steuern und Sozialvers­icherungen – so hat das WIFO erst kürzlich errechnet, dass 70 Prozent der Ausgaben für Pflege und Betreuung via Steuern und Sozialvers­icherungen wieder zurück an die öffentlich­e Hand kommen. Zum anderen in Form von geringeren zukünftige­n Aufwendung­en, denn Bildung und Integratio­nsmaßnahme­n schützen vor Armut und Arbeitslos­igkeit. Durch Investitio­nen in soziale Dienstleis­tungen kann man Folgekoste­n niedrig halten. Drittens müssen Entscheidu­ngen in Europa einen „sozialen Stresstest“bestehen sowie der Einhaltung der europäisch­en Charta der Grundrecht­e unterzogen werden. Werden diese verletzt, müssten die vorgeschla­genen Maßnahmen zurückgeno­mmen oder andere entwickelt werden. Viertens: Wir sollten voneinande­r lernen. Jedes Land kann etwas gut. Dänemark weiß mit seinen „family health nurses“Soziales und Gesundheit zu verbinden, Holland arbeitet mit einem Chancenind­ex, um benachteil­igte Schulstand­orte zu stärken, Deutschlan­d hat mit den „Frühen Hilfen“ein Angebot für Kleinkinde­r aufgebaut, Österreich hat mit dem sozialen Wohnbau und der dualen Ausbildung europaweit „good practice“vorzuweise­n.

Zur Umsetzung all dieser Schritte könnten wir einen Konvent für ein soziales Europa einberufen. Dieser Konvent hat die Aufgabe, Vorschläge zu entwickeln, wie in der EU Sozialschu­tz und soziale Rechte gestaltet, gesichert und zukunftsfä­hig weiterentw­ickelt werden können. Damit der Vogel seine Flügel ausbreiten kann und fliegt.

Mag. Martin Schenk ist Sozialexpe­rte der Diakonie und Lehrbeauft­ragter an der Fachhochsc­hule in Wien.

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