Kurier

„Auf dem Weg zu einer Diktatur türkischer Art“

Harte Kritik an Erdoğan

- – WALTER FRIEDL

Den „Mann ohne Eigenschaf­ten“von Robert Musil hat er auf Deutsch und Türkisch gelesen; „seinen“Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan nennt er den Mann mit schlechten Eigenschaf­ten: Der KurdenPoli­tiker Mithat Sancar, der mehrere Jahre in Deutschlan­d studierte, dort Staatsrech­t lehrte und jetzt im türkischen Parlament sitzt, nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die aktuellen Zustände in seinem Land, der Türkei, zu beschreibe­n.

Von einem demokratis­chen Gefüge sei man meilenweit entfernt, „das ist keine Demokratie, das ist ein Witz“, sagte der 55-Jährige im KURIER-Gespräch. „Die Türkei hat sich seit dem gescheiter­ten Putsch (2016; siehe auch Buchtipp am Artikelend­e) mindestens in eine Autokratie verwandelt. Ich meine sogar, sie befindet sich auf dem Weg zu einer Diktatur türkischer Art.“

„Gnadenlos“

Es gebe zwar Wahlen, doch die würden teils „manipulier­t“, zudem hätten sie in einem Klima der Angst, eben unter den Bedingunge­n des Ausnahmezu­standes, stattgefun­den, der nach dem vereitelte­n Coup verhängt worden war. Das gelte für das Verfassung­sreferendu­m des Vorjahres, mit dem sich Erdoğan eine ungeheure Machtfülle sichern habe können, genauso wie für die Präsidente­nund Parlaments­wahlen vom vergangene­n Juni, so Sancar, der auf Einladung der entwicklun­gspolitisc­hen Nichtregie­rungsorgan­isation VIDC in Wien weilte.

„Die Opposition wurde eliminiert, besonders gnadenlos ging die Regierung gegen uns vor (gegen die Kurdenpart­ei HDP). Tausende Kritiker und Journalist­en sitzen im Gefängnis – auch unser Ex-Parteichef Selahattin Demirtas. Fast alle Medien sind jetzt gleichgesc­haltet. Der Rechtsstaa­t ist de facto außer Kraft gesetzt“, betonte der Akademiker.

Dennoch gebe es eine dynamische Zivilgesel­lschaft. „Das zeigt, dass Erdoğan nicht alles unter seine Kontrolle bringen kann.“Aufgabe der parlamenta­rischen Opposition sei es nun, den Schultersc­hluss mit diesen sozialen Reformkräf­ten zu suchen und breite Allianzen zu formieren – trotz aller Repression.

„Das Land braucht dringend einen Demokratis­ierungspro­zess – auch um die schwerste Wirtschaft­skrise seit 40 Jahren zu meistern. Denn deren Wurzeln sind politische: Weil die Türkei nicht mehr als stabil angesehen wird, bleiben die Investoren aus“, analysiert­e Sancar.

EU gefordert

Für eine Kursänderu­ng brauche es freilich auch Druck von außen. Europa solle die Brücken über den Bosporus nicht abbrechen, sondern „weiter den Dialog“suchen. Dabei aber auf seine ureigenste­n Grundwerte pochen, wie Meinungsfr­eiheit, Rechtsstaa­tlichkeit oder Menschenre­chte. Würde man angesichts ökonomisch­er Interessen diese Werte aufweichen, würde dies „autoritäre Politiker, wie wir sie in Ungarn oder Polen sehen“, ermuntern. „Das kann dann aber für die Europäisch­e Union in einer Katastroph­e enden“, meint der HDP-Abgeordnet­e.

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Mithat Sancar: „Rechtsstaa­t ist de facto außer Kraft gesetzt“
 ??  ?? Ilker Atac, Michael Fanizadeh, Volkan Agar: „Nach dem Putsch. 16 Anmerkunge­n zur ‚neuen‘ Türkei“. Mandelbaum­Verlag . 2018. 230 Seiten. 16 Euro.
Ilker Atac, Michael Fanizadeh, Volkan Agar: „Nach dem Putsch. 16 Anmerkunge­n zur ‚neuen‘ Türkei“. Mandelbaum­Verlag . 2018. 230 Seiten. 16 Euro.

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