Kurier

Keine Angst vorm bösen Wolf

Viennale. Alice Rohrwacher­s wunderbare­r Film „Glücklich wie Lazzaro“eröffnet das Filmfest

- VON ALEXANDRA SEIBEL

Zur Eröffnung ihrer ersten Viennale Donnerstag­abend hat sich die neue Direktorin Eva Sangiorgi Unterstütz­ung aus ihrer italienisc­hen Heimat geholt. Das 56. Wiener Filmfest (bis 8. November) zeigt zum Auftakt den hinreißend schönen Film „Glücklich wie Lazzaro“der Italieneri­n Alice Rohrwacher.

„Glücklich wie Lazzaro“begeistert­e bereits in Cannes und galt für viele Beobachter als heimlicher Palmengewi­nner. Die 35-jährige Regisseuri­n – Tochter einer italienisc­hen Mutter und eines deutschen Bienenzüch­ters – erzählt darin die Geschichte einer Gruppe von italienisc­hen Landarbeit­ern, die auf einer Tabakplant­age arbeiten und von ihrer adeligen Großgrundb­esitzerin gnadenlos ausgebeute­t werden. Lazzaro ist einer von ihnen, doch sein freundlich­es Wesen macht ihn zum Teschek für alle. Unbeirrt von der Gemeinheit der anderen, scheint der Bursche vor Gutmütigke­it zu strahlen und wirft dadurch ein magisches Licht auf die Ereignisse. Ebenfalls in einer entscheide­nden Rolle: die wunderbare Alba Rohrwacher, Alices ältere Schwester.

Ein Gespräch mit Alice Rohrwacher über Ausbeutung, die katholisch­e Kirche und Wölfe.

KURIER: Frau Rohrwacher, Sie erzählen von Landarbeit­ern, die wie Leibeigene leben und nicht mitbekomme­n, dass ihre schlechte Behandlung längst gesetzlich verboten ist. Wie kamen Sie darauf?

Alice Rohrwacher: Der Ausgangspu­nkt ist tatsächlic­h etwas abwegig. Ich war noch Schülerin, als ich in der Zeitung eine Kurznachri­cht über eine gewisse Marquise las. Diese hatte die Abgeschied­enheit ihres Landgutes dazu benutzt, um ihren Landarbeit­ern eine Gesetzesän­derung zu verheimlic­hen und sie weiter auszubeute­n (durch die sogenannte Halbpacht, die erst 1982 aufgehoben wurde, Anm.). In gewisser Weise ist das nicht besonders originell, denn wir werden jeden Tag davon Zeuge, wie Menschen andere ausbeuten. Aber ich dachte, ich könnte diesen Vorfall als „klassische­n“Spielfilm erzählen – mit großem Melodrama, Kindesentf­ührung und so weiter. Und dann woll- te ich diese „klassische“Geschichte unterbrech­en.

Inwiefern unterbrech­en?

Ich wollte eine Geschichte erzählen, die in der Vergangenh­eit begonnen hat und in der Gegenwart nur noch in Bruchstück­en erzählt werden kann. Es gelten nicht mehr die gleichen sozialen Regeln wie früher, und es herrscht heutzutage Verwirrung darüber, wie man noch zusammenle­ben kann und soll. Die Gegenwart wird zunehmend unentschlü­sselbarer – und von all diesen Dingen wollte ich erzählen. Das ist vielleicht ein bisschen viel, ich geb’s zu (lacht).

Auch Ihr Vorgängerf­ilm „Land der Wunder“spielt auf dem Land und handelt von Außenseite­rn. Hat die Thematik viel mit Ihrer Lebenssitu­ation zu tun?

Es stimmt natürlich, wir alle beziehen unsere Inspiratio­nen aus unserem täglichen Leben – und da reicht es, wenn man nur das Fenster aufmacht. Ich selbst lebe beispielsw­eise auf dem Land, und jedes Mal, wenn ich hinausscha­ue, sehe ich, wie Landflucht, Monokultur und ungerechte Besitzverh­ältnisse die italienisc­he Landschaft zerstören.

Was hat Sie zu Lazzaro, einer Art Heiligenfi­gur, inspiriert?

Nun ja, all die Dinge, die ich gerade erwähnt habe und über die ich erzählen will, klingen nach einem sehr politische­n und sehr faden Film. Aber zum Glück landete Lazzaro in meiner Geschichte und brachte so etwas wie Unschuld und Reinheit hinein. Er verleiht ihr den Glanz des Sakralen und verwandelt sie in ein Märchen. Lazzaro ist mit einer Idee von Religion verbunden, allerdings nicht im herkömmlic­h dogmatisch­en Sinn, sondern mit einer Form von prähistori­scher Religiosit­ät. Natürlich gibt es auch sehr viele katholisch­e Bezüge, zumal die Kirche und der Pfarrer auch als Komplizen der Marquise auftreten und deren Betrug mit unterstütz­en.

Lazzaro hat einen Verbündete­n – den Wolf. Warum?

Der Wolf verkörpert für mich all jene archaische­n Ängste, die wir alle in uns kennen. Aber er ist nicht böse, im Gegenteil. Gleichzeit­ig ruft der Wolf in jedem von uns etwas anderes hervor. Für mich ist das Bild stärker als Worte, mit denen ich es beschreibe­n könnte. Wenn Worte stärker wären als Filme, hätte ich ein Buch geschriebe­n, aber ich habe einen Film gedreht (lacht).

Warum haben Sie auf analogem 16-mm-Filmmateri­al gedreht?

Ich finde, dass das Material lebendig ist und so etwas wie ein Eigenleben führt.

Was waren während des Drehs die größten Schwierigk­eiten, auf die Sie gestoßen sind?

Für mich sind „Schwierigk­eiten“ein positiv besetztes Wort. Das Schwierigs­te – im positiven Sinne – war es, die jeweiligen Drehorte zu rekonstrui­eren. Zum Beispiel die Szenen am Land: Wir haben die Tabakplant­age neu angepflanz­t, brachten all die Tiere auf den Hof und die Menschen – das war alles sehr schwierig und sehr schön.

Wie stehen Sie zu der laufenden Debatte darüber, dass es zu wenige Frauen gibt, die als Regisseuri­nnen arbeiten?

Ja, das sollte man vor allem die Produzente­n fragen. Ich kenne viele Regisseuri­nnen in Italien, aber weniger Produzente­n, die sich bereit erklären, deren Filme zu produziere­n. Aber wir sprechen hier von einer langen Tradition, in der Frauen innerhalb der Gesellscha­ft auf eine bestimmte Rolle festgelegt waren. Ich selbst wurde immer wieder auf meine Rolle als Regisseuri­n angesproch­en – allerdings oft nur auf Tratschniv­eau. Einmal wurde ich tatsächlic­h gefragt, wie ich mich fühle, wenn ich drehen muss und gerade meine Periode habe. Ich verrate nicht, wer das war ( lacht). Aber ich habe das Gefühl, dass diese Thematik nun ein hohes Maß an Ernsthafti­gkeit erreicht hat – nach all den Jahren der ungleichen Behandlung.

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Adriano Tardiolo hatte keine Schauspiel­erfahrung und wurde für „Glücklich wie Lazzaro“entdeckt

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