Kurier

Wie der Wolf „böse“wurde

Historie. Obwohl ihm schon lange keine Menschenme­hr zumOpfer fielen, gilt dasRaubtie­r vielen als Bestie

- VON GILBERT WEISBIER UND JÜRGEN ZAHRL

„Wenn Wölfe da sind, werden sie irgendwann auf Kinder losgehen. Dafür muss man überhaupt kein Hellseher sein. Das sagt einem der Hausversta­nd.“Stammgäste in einem Wirtshaus in Lang schlag im nieder österreich­ischen Wald viertel, wo zuletzt mehrere Schafe gerissen wurden, beharren auf dieser Meinung. Wie kommt es überhaupt, dass der Wolf vielen vor allem als menschen fressende Bestie gilt?

„Ich glaube schon, dass es fast so etwas wie eine Konditioni­erung durch Märchen gibt, wenn der Wolf immer als das Böse dargestell­t wird. Das setzt sich bewusst oder unbewusst in unseren Gedanken fest. So etwas prägt viele Generation­en“, sagt Dieter Frey von der Ludwig-Maximilian­sin München. Er setzt sich in seinem Buch „Psychologi­e der Märchen“(Springerve­rlag, 2017) mit derenWirku­ng auseinande­r.

Alte Schriften

Historisch­e Schriften kratzen häufig am Leumund des Wolf es–etwa Eintragung­en in Pfarrchron­iken, wonach Wölfe im17. Jahrhunder­t in Oberösterr­eich Kinder„ zerbissen“hätten. Möglicherw­eisehaben sie als Hirten im Freien übernachte­t. „Besonders unbeliebt wurden Wölfe im Mittelalte­r und in der Neuzeit, als sie sich an den Toten auf den Schlachtfe­ldern vergriffen, am Vieh der armen Bauern und als Jagdkonkur­rent des Adels in den bereits recht leer geräumten Wäldern“, erklärt Kurt Kotrschal, der als Wolfsforsc­her auch die Historie des Raubtiers kennt: „Dazu kamnoch, dass derWolf für die Kirche als altes ‚heidnische­s‘ Symbol zur Verkörperu­ng allen Bösen und des Teufels wurde. Folgericht­ig wurde er in Mitteleuro­pa mithilfe moderner Jagdwaffen vom 17. bis 19. Jahrhunder­t ausgerotte­t.“

Dabei habe alles ganz friedlich begonnen: „Vor mehr als 30.000 Jahren kamen unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren in Kontakt mit jenen Wölfen, aus denen erstmals Hunde entstanden waren. Sie hatten eine respektvol­le, nahezu verwandtsc­haftliche Einstellun­g zum Wolf“, sagt Kotrschal. Erst als Menschen vor ungefähr 8000 Jahren für die Landwirtsc­haft sesshaft wurden, sei der Wolf zur Bedrohung ihrerWeide­tiere geworden.

So hoch die Emotionen in der öffentlich­en Debatte aufflacker­n, so dünn ist derzeit die Faktenlage. Denn gut 100 Jahre lang waren dieWölfe inMitteleu­ropa – bis auf scheue Einzelgäng­er – nicht präsent. Weil kaum ein Erfahrungs­schatz vorhanden ist, ersetzt man laut den befragten Experten fehlendes Wissen zum Teil durch das Bild, das alte Mythen, Märchen oder gruselige Filme transporti­eren. Entspreche­nd schwierig lässt sich abschätzen, wie sich ein „normaler“Wolf verhält – und wie man einen so genannten„ Problem wolf“definiert.

„Ich glaube schon, dass es fast so etwas wie eine Konditioni­erung durch Märchen gibt.“Dieter Frey Psychologe

Überlebens­kampf

Viele Argumente zum Wolf beziehen sich jedenfalls auf eine lange zurücklieg­ende Zeitspanne, in der das Zusammenle­ben mit Lupus von einem beidseitig­en Überlebens­kampf geprägt war. Das belegen Forschungs­arbeiten, die sich mit demMens ch- Wolf-Verhältnis und Übergriffe­n auf Menschen beschäftig­en.

Die „NINA“-Studie vom Norwegisch­en Institut für Naturforsc­hung etwa zeigt, dass es für Wölfe, die sich im intensiv genutzten Agrarland aufhalten, „normal“ist, in der Nähe vom Menschen zu leben und sporadisch auch Hunde zu töten, ohne dass sie für Menschen eine Bedrohung darstellen. Belegt scheint, dass in Europa ab dem 18. Jahrhunder­t 1572 Menschen von – vielfach tollwütige­n – Wölfen getötet wurden. Die Tollwut ist heute in Europa fast verschwund­en.

Heute sei die Situation anders, sagt Kotrschal: „Aufgeklärt­es und ökologisch­es Denken und zunehmende­r Respekt vor der Natur im 20. Jahrhunder­t, gegossen in Schutz bestimmung­en, und extrem hohe Wild dichten in unseren Wäldern führen nun zu einer raschen Wiederkehr der Wölfe im Kultur land–und zu jenen Konflikten, die wir gerade erleben. Menschen sind ihm seither nicht zum Opfer gefallen.“

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Fehlende Erfahrunge­n ersetzen Besorgte teils mit Bildern aus Märchen
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