Wie der Wolf „böse“wurde
Historie. Obwohl ihm schon lange keine Menschenmehr zumOpfer fielen, gilt dasRaubtier vielen als Bestie
„Wenn Wölfe da sind, werden sie irgendwann auf Kinder losgehen. Dafür muss man überhaupt kein Hellseher sein. Das sagt einem der Hausverstand.“Stammgäste in einem Wirtshaus in Lang schlag im nieder österreichischen Wald viertel, wo zuletzt mehrere Schafe gerissen wurden, beharren auf dieser Meinung. Wie kommt es überhaupt, dass der Wolf vielen vor allem als menschen fressende Bestie gilt?
„Ich glaube schon, dass es fast so etwas wie eine Konditionierung durch Märchen gibt, wenn der Wolf immer als das Böse dargestellt wird. Das setzt sich bewusst oder unbewusst in unseren Gedanken fest. So etwas prägt viele Generationen“, sagt Dieter Frey von der Ludwig-Maximiliansin München. Er setzt sich in seinem Buch „Psychologie der Märchen“(Springerverlag, 2017) mit derenWirkung auseinander.
Alte Schriften
Historische Schriften kratzen häufig am Leumund des Wolf es–etwa Eintragungen in Pfarrchroniken, wonach Wölfe im17. Jahrhundert in Oberösterreich Kinder„ zerbissen“hätten. Möglicherweisehaben sie als Hirten im Freien übernachtet. „Besonders unbeliebt wurden Wölfe im Mittelalter und in der Neuzeit, als sie sich an den Toten auf den Schlachtfeldern vergriffen, am Vieh der armen Bauern und als Jagdkonkurrent des Adels in den bereits recht leer geräumten Wäldern“, erklärt Kurt Kotrschal, der als Wolfsforscher auch die Historie des Raubtiers kennt: „Dazu kamnoch, dass derWolf für die Kirche als altes ‚heidnisches‘ Symbol zur Verkörperung allen Bösen und des Teufels wurde. Folgerichtig wurde er in Mitteleuropa mithilfe moderner Jagdwaffen vom 17. bis 19. Jahrhundert ausgerottet.“
Dabei habe alles ganz friedlich begonnen: „Vor mehr als 30.000 Jahren kamen unsere Jäger- und Sammler-Vorfahren in Kontakt mit jenen Wölfen, aus denen erstmals Hunde entstanden waren. Sie hatten eine respektvolle, nahezu verwandtschaftliche Einstellung zum Wolf“, sagt Kotrschal. Erst als Menschen vor ungefähr 8000 Jahren für die Landwirtschaft sesshaft wurden, sei der Wolf zur Bedrohung ihrerWeidetiere geworden.
So hoch die Emotionen in der öffentlichen Debatte aufflackern, so dünn ist derzeit die Faktenlage. Denn gut 100 Jahre lang waren dieWölfe inMitteleuropa – bis auf scheue Einzelgänger – nicht präsent. Weil kaum ein Erfahrungsschatz vorhanden ist, ersetzt man laut den befragten Experten fehlendes Wissen zum Teil durch das Bild, das alte Mythen, Märchen oder gruselige Filme transportieren. Entsprechend schwierig lässt sich abschätzen, wie sich ein „normaler“Wolf verhält – und wie man einen so genannten„ Problem wolf“definiert.
„Ich glaube schon, dass es fast so etwas wie eine Konditionierung durch Märchen gibt.“Dieter Frey Psychologe
Überlebenskampf
Viele Argumente zum Wolf beziehen sich jedenfalls auf eine lange zurückliegende Zeitspanne, in der das Zusammenleben mit Lupus von einem beidseitigen Überlebenskampf geprägt war. Das belegen Forschungsarbeiten, die sich mit demMens ch- Wolf-Verhältnis und Übergriffen auf Menschen beschäftigen.
Die „NINA“-Studie vom Norwegischen Institut für Naturforschung etwa zeigt, dass es für Wölfe, die sich im intensiv genutzten Agrarland aufhalten, „normal“ist, in der Nähe vom Menschen zu leben und sporadisch auch Hunde zu töten, ohne dass sie für Menschen eine Bedrohung darstellen. Belegt scheint, dass in Europa ab dem 18. Jahrhundert 1572 Menschen von – vielfach tollwütigen – Wölfen getötet wurden. Die Tollwut ist heute in Europa fast verschwunden.
Heute sei die Situation anders, sagt Kotrschal: „Aufgeklärtes und ökologisches Denken und zunehmender Respekt vor der Natur im 20. Jahrhundert, gegossen in Schutz bestimmungen, und extrem hohe Wild dichten in unseren Wäldern führen nun zu einer raschen Wiederkehr der Wölfe im Kultur land–und zu jenen Konflikten, die wir gerade erleben. Menschen sind ihm seither nicht zum Opfer gefallen.“