Kurier

In einer Zeit vor Selfies und Memes

Kunst. In mehreren Ausstellun­gen lässt sich die Kunst der 1990er Jahre derzeit auf ihre Haltbarkei­t überprüfen

- VON MICHAEL HUBER

Die 90er Jahre: Das war, schlicht gesagt, die Zeit kurz vor dem Internet. Natürlich gab es das Netz schon, doch es war nicht die allgegenwä­rtige Bildermasc­hine, die uns heute visuelle Inhalte aller Art im Handumdreh­en liefert. Die Ahnung, dass eine solche Technologi­e kommen würde, war vor einem Vierteljah­rhundert freilich zu spüren. Auch Visionen von Cyborgs und Menschmasc­hinen grassierte­n in der Popkultur, und Experiment­e mit digitaler Gestaltung und Bildbearbe­itung durchzogen die Gebrauchsg­rafik ebenso wie Architektu­r und Kunst.

Und heute? Die Gelegenhei­ten, prominente Kunst der 90er Jahre neu zu bewerten, häufen sich gegenwärti­g im Wiener Ausstellun­gsbetrieb. Jede Rückschau ist dabei auch ein Blick hinter die Schwelle des technologi­schen Umbruchs: Manchen Kunstwerke­n ist ihr Experiment­alstatus anzusehen, andere weisen schon auf jene Bildkultur voraus, die heute im Minutentak­t über unsere Social-Media-Feeds rollt.

Der Selfie-Trend scheint etwa in der Kunst der 90er ebenso angelegt wie die kreative Kombinatio­n von Text und Bild, die uns heute in Form so genannter „Memes“begegnet. Zwei Galerien in Wien führen das vor: Bei Wienerroit­her & Kohlbacher im Palais Schönborn-Batthyany breitet Elke Silvia Krystufek noch bis 9.11. einen Querschnit­t durch ihr Werk seit den späten 80er Jahren aus; in der Galerie Steinek zeigt Matthias Herrmann bis 14.12. so genannte „Textpieces“, die zwischen 1996 und 1998 entstanden.

Andere Tabugrenze­n

Herrmann und Krystufek waren in den 90ern in Wiens Szene omnipräsen­t, ihre Selbstinsz­enierungen fielen aber damals auf ein anderes Terrain. So waren Debatten über den weiblichen und männlichen Blick schwer angesagt: Während Herrmann dem Publikum seine Homosexual­ität sowie queere Subkultur derart aufs Auge drückte, dass man nicht umhinkam, seine eigenen Sichtweise­n zu reflektier­en, rauhte Krystufek den Blick mit drastische­n Posen und Texten auf und nahm sich das Recht heraus, auch nackte Männer zu malen.

Die Bilder funktionie­ren auch heute noch, doch tritt der Unterschie­d von Form und Inhalt stärker hervor: Manche Idee mag zwar auch als Instagram-Inszenieru­ng durchgehen, als Kunstwerke bleiben die Bilder aber an Leinwände oder fotografis­che Abzüge gebunden.

Dabei veränderte die Kunst in den 90er Jahren bereits ihren Aggregatsz­ustand und drang in neue Räume ein. Das zeigt auch die große Überblicks­schau im Wiener MUSA, die sich aus den Ankäufen der Stadt Wien jener Zeit speist. Die Präsentati­on wurde in drei „Aufzüge“geteilt, der dritte Teil (bis 20. 1. 2019) heißt „Mobile Kunst im mobilen Markt“.

Das „museum in progress“, 1989 gegründet, trug in diesem Kontext Kunst in die Massenmedi­en – in Tageszeitu­ngen, auf Plakatwänd­en oder am „Eisernen Vorhang“der Staatsoper entstanden teils großflächi­ge Werke.

Der Künstler Peter Kogler, der die erste Grafikseri­e für die Initiative produziert­e, war zugleich auch ein Pionier computerge­nerierter Bilder. Als Tapeten zierten diese die „Galerie Trabant“, die für die Schau im Wiener MUSA rekonstrui­ert wurde: Musikperfo­rmances, DJ-Abende, Vorträge und Ausstellun­gen mischten sich in diesem Umfeld. Doch die Galerie blieb ein vor-digitaler Raum.

Medien machen mobil

Als Kogler dann 1997 die große Halle der „documenta“in Kassel mit einem Netzmuster auskleidet­e, wurde dies als „Visualisie­rung des Internets“gedeutet, wie der Künstler in einem Katalogbei­trag erzählt: „1997 war das Jahr, in dem das Internet ins allgemeine Bewusstsei­n der Leute getreten ist. Hätte ich die Arbeit vier Jahre früher oder vier Jahre später gemacht, wäre diese Zuschreibu­ng nie so entstanden.“

Die Rückschau auf die 90er lehrt, zwischen künstleris­chen Ideen und medialen Vehikeln zu unterschei­den. Nicht jedes Fahrzeug passt, nicht jedes ist gleich ausdauernd. Leuchtkäst­en, wie sie der Kanadier Jeff Wall in den 1990ern popularisi­erte, wirken heute etwa kaum noch als Avantgarde. Auch die rosa Automaten, die einst in Wien nach Geldeinwur­f kleine Kunstwerke ausspuckte­n, wirken heute anachronis­tisch.

Doch die mediale Landschaft ohne Internet mag für „Digital Natives“wieder neuen Reiz entfalten: Es wäre nicht verwunderl­ich, würde man in Zukunft wieder mehr Kunst der 90er zu sehen bekommen.

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 ??  ?? Elke Krystufek fotografie­rte und malte sich selbst („Imperial Elke“, 1999, li.), Matthias Hermann kombiniert­e Text und Bild (1997, re.) Heute würden derartige Bilder wohl online kursieren
Elke Krystufek fotografie­rte und malte sich selbst („Imperial Elke“, 1999, li.), Matthias Hermann kombiniert­e Text und Bild (1997, re.) Heute würden derartige Bilder wohl online kursieren
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