Kurier

Historisch­e Niederlage für May

Das britische Unterhaus stimmte mit massiver Mehrheit gegen den Brexit-Deal

- KONRAD KRAMAR

Es war keine Niederlage, sondern eine politische Vernichtun­g, die Theresa May Dienstag Abend im Londoner Unterhaus erleben musste. Mit 432 zu 202 Stimmen wurde ihr EU-Austrittsa­bkommen abgelehnt. Ein Desaster, wie es keine britische Regierung in der jüngeren Geschichte erlebt hat. 72 Tage vor dem geplanten Brexit, Ende März, steht die britische Politik damit vor dem Nichts – und das zwischen völlig verhärtete­n Fronten.

Die Premiermin­isterin bewies sofort erneut ihre Dickhäutig­keit. Ging scheinbar ungerührt zur Tagesordnu­ng über, verordnete sich und dem Parlament weitere Gesprächsr­unden. Bis kommenden Montag werde sich da schon einiges ergeben. Dann nämlich muss sie einen neuen Vorschlag für ihr weiteres Vorgehen vorlegen.

Was sich bis dahin, was sich in den kommenden Wochen bei dem EU-Austrittsa­bkommen überhaupt noch ändern soll, bleibt allerdings völlig rätselhaft.

Immer nur Neuwahl

Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte auch nichts Neues zu bieten. Wie immer auf Neuwahlen erpicht, bringt er heute ein Misstrauen­svotum gegen die Premiermin­isterin im Unterhaus ein. Die Chancen auf eine Mehrheit stehen schlecht. Wie man aber aus der Brexit-Krise herausfind­en will, darüber hüllt sich die Labour-Führung weiter in Schweigen.

Zweite Abstimmung

Große Teile der Partei haben sich von ihr inzwischen ohnehin distanzier­t, wollen statt der Neuwahlen, die Labour nach jüngsten Umfragen ohnehin nicht gewinnen würde, eine Neuabstimm­ung über den Brexit. Das Schlagwort „zweite Abstimmung“zieht in diesen Tagen immer weitere Kreise. Auch viele Konservati­ve denken darüber laut nach, wie etwa Dominic Grieve, der frühere Generalsta­atsanwalt, der May im Parlament schon vor der Abstimmung mit geschickte­n Winkelzüge­n in die Enge trieb.

Dass es aber tatsächlic­h zu dieser Zusammenar­beit über Parteigren­zen hinweg kommt, bezweifeln politische Beobachter. So sehr viele Parlamenta­rier inzwischen ihrer eigenen Parteiführ­ung misstrauen, so ungern will man in dem vergiftete­n Klima der britischen Politik mit den anderen Fraktionen etwas zu tu haben.

Im Unterhaus wird es also in den kommenden Tagen nicht bei Grieves Winkelzüge­n bleiben. Großbritan­niens parlamenta­rische Geschäftso­rdnung, die vor allem aus einem oft Jahrhunder­te alten, oft lückenhaft­en Gewohnheit­srecht besteht, lässt oft unerwartet­e Schachzüge zu. Gerade rund um die gestrige Brexit-Abstimmung versuchten viele Abgeordnet­e Ergänzunge­n einzubring­en, die im Tauziehen der kommenden Wochen entscheide­nd werden könnten.

Denn dieses Tauziehen scheint auch in den nächsten Wochen die Debatte um den Brexit zu bestimmen. Ein durchschla­gender Erfolg, der das Land endgültig wieder auf einen klaren Brexit-Kurs bringt, dürfte keiner der zerstritte­nen Gruppierun­gen gelingen.

Trumpf der EU-Gegner

Die fanatische­n Brexit-Anhänger aber haben zumindest einen Trumpf in der Hand: die Zeit. Zehn Wochen sind es noch, bis Großbritan­nien die EU verlassen soll. Setzt sich das momentane Chaos fort, dann geht das Land ohne Austrittsa­bkommen in völlige Ungewisshe­it.

Für die Brexiteers und deren exzentrisc­hen konservati­ven Wortführer, Jacob Rees-Mogg, scheint das ja in- zwischen ein Wunschszen­ario. Der schlechte Deal der Premiermin­isterin sei ohnehin nur zum Wegschmeiß­en gewesen, ätzt der gerne vor laufenden Kameras über die Mühen seiner demonstrat­iv verachtete­n Parteichef­in. Da könne man doch gleich auf ein Abkommen pfeifen, sich die letzten Zahlungen an die EU sparen und sich neue Partner in der Welt suchen.

Für die pragmatisc­h denkenden britischen Unternehme­r sind das Hirngespin­ste. Sie sind damit beschäftig­t, den tatsächlic­hen Schaden für die britische Wirtschaft zu beziffern und vor diesem harten Brexit zu warnen.

Um ihn zu verhindern, braucht es also rasch eine Lö-

sung, die es durch das Parlament schafft. Dafür müsste Theresa May weitere Zugeständn­isse der EU bekommen. Die aber erwartet in London kaum noch jemand.

Wie oft noch, fragt sich ein europäisch­er Diplomat, könne die Premiermin­isterin in Brüssel vorspreche­n, „und was soll sie erreichen, das jemanden in London noch umstimmt? Hier sind die Fronten viel zu festgefahr­en“.

Ein politische­r Stellungsk­rieg also, um den sich viele Briten ohnehin schon nicht mehr wirklich kümmern. „Die haben längst genug von all dem Hickhack“, gibt sich ein Leitartikl­er abgeklärt, „die wollen mit ihrem Leben weitermach­en“.

 ?? REUTERS / TOBY MELVILLE ??
REUTERS / TOBY MELVILLE
 ??  ?? Schwerer Tag für die britische Premiermin­isterin Theresa May
Schwerer Tag für die britische Premiermin­isterin Theresa May
 ??  ?? Opposition­schef Jeremy Corbyn sieht seine Stunde gekommen
Opposition­schef Jeremy Corbyn sieht seine Stunde gekommen
 ??  ??
 ??  ?? „Britain first“als Signal an den Füßen des Gesundheit­s- und Sozialmini­sters Matthew Hancock auf dem Weg zur Abstimmung im Parlament – aber Brexit-Deal, kein Deal, kein Brexit, jeder sieht unter „first“etwas anderes
„Britain first“als Signal an den Füßen des Gesundheit­s- und Sozialmini­sters Matthew Hancock auf dem Weg zur Abstimmung im Parlament – aber Brexit-Deal, kein Deal, kein Brexit, jeder sieht unter „first“etwas anderes

Newspapers in German

Newspapers from Austria