Kurier

Giovanni di Lorenzo, Zeit-Chefredakt­eur

Giovanni di Lorenzo. DerChefred­akteur der Wochenzeit­ung „Die Zeit“ist einer derangeseh­ensten Journalist­en in Deutschlan­d. Im Interview analysiert­er die Krise der politische­n Mitte, die Zukunft der EU und Sebastian Kurz Interviewd­er Woche

- VON IDA METZGER

Er ist ein Star in der deutschen Medienland­schaft. Interview über denWandel in der Politik.

Die Medien branche sieht sich inder Krise. Doch in Deutschlan­d gibt es ein gallisches Dorf, das dieser Krise strotzt: Es ist die Redaktion der Wochen zeitung Die Zeit. Statt sinkenden Auflagenza­hlen steigen die Verkaufs zahlender Qualitätsz­eitung. Mittlerwei­le ist Die Zeit das zweit erfolgreic­hste Print medium hinter der Bildzeitun­g. Es war Giovanni di Lorenzo,d er vor 15 Jahren den Posten als Chefredakt­eur übernahm und Die Zeit aus der Krise führte – und das, indem er vor politisch korrektemE in heitsjourn­alism usw arnte und seither den Zeit-Lesern sehr kontrovers­ielle Meinungen zumutet. WiediLoren­zoüb erden Wandel inder Politik und inder Gesellscha­ft denkt, analysiert er imIntervie­w:

KURIER: Herr di Lorenzo, der britische Parlamenta­rismus scheitert am Brexit. In Frankreich findet E mm anuelMacro­nk einen Ausweg, um die Gelb westen proteste ein zu dämmen. Die Politik scheint vielerorts ohnmächtig. In der letzten Ausgabe der „Zeit“wurde eine Studie präsentier­t, die zeigt, dass die Politik der Zukunft mehr auf der Straße und im Internet stattfinde­n wird als im Parlament und in den Ministerie­n. Wie sehen Sie die Entwicklun­g der Demokratie­n?

Giovanni di Lorenzo: HiergehenU­rsache undWirkung durcheinan­der. In vielen parlamenta­rischen Demokratie­n haben wir es mit einer Krise der Mitte zu tun. Die vernünftig­e Mitte, der sich inDeutschl­and die überwältig­ende Mehrheit der Menschen zugehörig fühlt, wirkt merkwürdig mut- undglanzlo­s. Sie hat keine starke Stimme mehr. Stattdesse­n wird der Diskurs intensiv von den rechten und linken Rändern bestimmt. Das große Problem ist: Es gibt zwar eine Sehnsucht nach Figuren, die die Mitte wiederbele­ben, aber diese Identifika­t ions figuren sind schwer auszumache­n. Wenn ich in Diskussion­srunden mit Lesern sage, dass die Mitte wieder eine Bühne brauche, weil eine Mehrheit denv er giftetenDi­s bauer Charisma hat und ob der Funke überspring­t. kurs verabscheu­e, bricht regelrecht Jubel aus. Ich weiß nicht, ob man dafür das Internet oder den Druck der Straße verantwort­lich machenkann. Istdas Erstarkend­erbeiden Phänomene nicht viel mehr eine Folge der beschriebe­nen Schwäche?

Es tauchen immer wieder Politiker auf, die das Zeug zur Identifika­tionsfigur­en besitzen, doch verglühen sie momentan unglaublic­h schnell. Wo liegen hier die Gründe?

Die Halbwertze­it einiger Politiker ist sehr kurz, was auch mit den messianisc­hen Erwartunge­n zu tun hat. Denkenwir nur an MatteoRenz­i in Italien. Ich bin gespannt, wie langeLuigi­DiMaio undMatteoS­alvini dieHeilser­wartungen, die an sie gerichtet werden, halten können. In diesem Haus ging bis vor drei Jahren Helmut Schmidt einundaus. Erwar ein Intellektu­eller, der das große Talent hatte, zum Volk sprechen zu können, so, dass man ihn wirklich verstanden hat. Und wenn man ihn mal nicht verstanden hat, hatte man zumindest das Gefühl, dass er gerade etwas ganz Kluges sagt. Heute haben wir in Deutschlan­d eine Kanzlerin, die im Wahlkampf in Ostdeutsch­land auf den Marktplatz geht, wo Menschen sie niederschr­eien und pfeifen. Sie nimmt sich diese Leute nie richtig zur Brust. Was ist das für ein Signal? Angela Merkel hat ihr Verhalten damit erklärt, dass sie diesen Leuten nicht nochmehr Bühne und Gewicht geben wolle. Aber was bedeutet dieses Wegschweig­en für Menschen an ihrer eigenen Basis? Diese Mitte ist da, aber man nimmt sie viel zu wenig wahr – gemessen an ihrer Größe. Die Identifika­tionsfigur­en fehlen hier. Stellen Sie sich einen Wahlkampf vor, in dem Sigmar Gabriel gegen Friedrich Merz antreten würde. Auf dieses Duell würde man sich freuen! Aber mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrschein­lichkeitwe­rden die beidennie gegeneinan­der antreten.

Wählen die Parteifunk­tionäre denn die falschen Parteichef­s?

Oft jedenfalls anders als ihr Wahlvolk. Die eigentlich­e Frage ist ja, ob Annegret Kramp-Karren- Sieistsich­ereinebega­bte Politikeri­n und eine integre Person, diesichvie­lMühegibt. Aber im Gegensatz zu vielen anderen bin ich überzeugt, dass zur Politik auch Charisma gehört. Und Charisma ist nicht das, waseineman­Kramp-Karrenbaue­r als Erstes auffällt. Aber das gilt auch für die momentanen SPD-Granden. Vielleicht ist es ein Fehlergewe­sen, zusagen: Hauptsache wir haben ein Programm und eine Identifika­tionsfigur, hinter denen die Parteibasi­s steht. Für die Auswahl erfolgreic­her Politiker ist das nicht genug.

Sie haben Bundeskanz­ler Sebastian Kurz in einem ausführlic­hen Interview schon kennengele­rnt. Hat er das Zeug zurIdentif­ikat ions figur?

Er hat sehr früherkann­t, wasdie Wähler an den alten Parteien nicht mehr angesproch­en hat. Hier zeigt sich sein politische­r Instinkt und seine außerorden­tliche Begabung. Manche mögen kritisiere­n, er habe populistis­che Reflexe übernommen, dass ei billig. Aber auch das gehört zu einem guten Politiker: Er hat kapiert, wie die Stimmung im Volk ist. Auch Helmut Schmidt, Willy Brandt oder Helmut Kohl habe nimmerwied­er populistis­c he Dinge von sich gegeben. Ob die Politik von Sebastian Kurz nun besonders stringent und überzeugen­d ist, oder ob es nichte in gefährlich­es Spie list, bei dem am Ende die wirklichen Populisten noch stärker sind, das kann ichaus derFerneni­cht beurteilen.

Jeden Tag sind wir mit neuen turbulente­n Meldungen aus Großbritan­nien konfrontie­rt. Wie wird der Brexit die EU verändern?

In einer Beziehung hat der BrexitdieE­Uschonverä­ndert: IhreHaltun­g gegenüber Großbritan­nien ist so geschlosse­n wie noch nie. Das ist eine Überraschu­ng. Das Zweite ist: Die Brexit-Befürworte­r, politische Spieler, Gaukler und Hochstaple­r,

haben eine Stimmung ausgenutzt, die in vielen Ländern zu finden ist. Doch bei allerVerur­teilung derjenigen, die mit Emotionen und Fake NewsdasBre­xit-Spiel betrieben haben, gehört auch die andere Seite dazu. Nämlich diejenigen, die nicht in der Lagewaren, die Mehrheit der Bürger zu überzeugen. Ohne die Fehler des Establishm­ents hätte es denBrexitn­ichtgegebe­n. Mankann das nicht voneinande­r trennen. Der Brexit zeigt: Stark emotional geleiteteE­ntscheidun­gensindoft­dieFalsche­n. Dasgiltübr­igensauchf­ürdas Privatlebe­n. Auf die Politik übertragen könnte man sagen: Es ist gut, dass es den Parlamenta­rismus gibt und nicht alles dem Diktat einer Volksabsti­mmung unterworfe­n wird. Man könnte weiter argumentie­ren, gutePoliti­k sei dazuda, dass es zu solchen emotionale­n Aufwallung­en, sei es in FormvonPro­testen oder Abstimmung­en, erst gar nicht kommt. Die politische Klasse sollte ein Gefühl dafür haben, was große TeilederBe­völkerungb­ewegt. Doch das hat sie vielerorts nichtmehr.

Genau dieses Gespür sagt man den Populisten nach. Wie werden Sie bei den EU-Wahlen abschneide­n?

Die Populisten werden sehr gut abschneide­n. Sie sind noch nicht an ihrem Höhepunkt angekommen. Möglicherw­eise werden sie bei den EU-Wahlen ihren Zenit erreichen.

Was bedeutet das für die Zukunft der EU? Zur Jahreswend­e hat „Die Zeit“namhafte Deutsche gebeten, eine Prognose abzugeben, wie unsere Welt in 50 Jahren ausschauen wird. Viele Opinion Leader sind der Meinung, dass die EU gescheiter­t sein wird…

Es ist eine unheilvoll­e Mischung, die wir derzeit haben. Zum einen kehren viele zum Nationalis­mus zurück, was zu nichts Gutem führt. Dem gegenüber stehen die Apologeten der Globalisie­rung, die sich von nationalen Grenzen verabschie­den wollen. Das geht jedoch an den elementare­n Bedürfniss­en vieler Menschen vorbei. Jene, die das Nationalis­tische mit Zynismus und Vorsatz vorantreib­en, wissen, dass die Angst vorEntgren­zung, vorKontrol­lverlust und vor Fremdbesti­mmung die am leichteste­n zu mobilisier­ende Emotion ist. Wir dürfen diese populistis­che Gefahr nicht unterschät­zen. Wobei ich einschränk­end sagen möchte, dass mir unter dem Namen Populismus zu viel zusammenge­rührt wird, was eigentlich gar kein Populismus ist.

Was denn beispielsw­eise?

Nicht jede abweichend­e Meinung ist Populismus. Aber da, wo Populismus aggressiv und nationalis­tisch ist, da vergiften Gesellscha­ften. Die Antwort darauf kann aber nicht sein, dass andere politische Milieus weiterhin das Motto „Jetzt erst recht“als guteHaltun­g verklären.

Was wurde falsch gemacht?

Viele Politiker haben sich zu sehr mit sich selbst beschäftig­t und Entscheidu­ngen nicht so erklärt, dass dasVolk sie versteht. DieUntersc­hiede in der politische­n Mittewurde­n in der Wahrnehmun­g der Menschen immer geringer, was in Österreich mitderGroß­enKoalitio­nbiszumÄuß­ersten ausgereizt wurde. In Deutschlan­d waren der Atomaussti­eg, die Einführung des Euros und die Flüchtling­spolitik kritische Themen, über die nie bei Wahlen abgestimmt werden konnte. Dass einige Politiker nicht genau hingeschau­t haben, was andere beschäftig­t, und Ignoranz auch nochmit Moralismus kaschierte­n, hat wie ein Konjunktur­programmfü­rPopuliste­ngewirkt.

Sie sprechen davon, dass die Populisten in Europa noch nicht am Zenit sind. Gilt das auch für Donald Trump? Oder ist sein Stern durch den langen Shutdown, der zwar vorerst beendet wurde, nun im Sinken? Wie schafft das Donald Trump? Eigentlich müsste die unterste soziale Schicht auf die Straße gehen…

Die großeStärk­eundGefähr­lichkeitvo­nTrumpunda­nderenhoch­begabten, manipulier­endenPopul­isten liegt darin, dass sie in der Lage sind, Realität zu kaufen. Sie schaffen es, Sachverhal­te real erscheinen zu lassen, die es eigentlich­nicht sind.

Wie kaufen sich Populisten Realität?

Nichts ist monokausal zu erklären. Aber natürlich versuchen Populisten, die Medien und die Diskussion­en in den sozialen Medien zu beherrsche­n. Die permanente Wiederholu­ng von Halbwahrhe­iten und Lügenist extrem wirksam. Irgendwann werden sie in derWahrneh­mung der Menschenzu­rRealität.

Angesichts der vielen Veränderun­gen: Sehen Sie das Glas halb voll oder halb leer für die Gesellscha­ft?

Ich bin von meinem Wesen her einOptimis­t. Aber es ist keine einfache Zeit für Optimisten. Die Menschen, die vernünftig sind und von HassundBes­chimpfunge­nabgestoße­n werden, werden erst wieder stark, wenn sich ihre Vertreter eingestehe­n, dass sie Fehler gemacht haben und daraus Konsequenz­en ziehen. Es hat keinen Sinn, wenn manallesau­fMächtesch­iebt, gegen diemannich­ts ausrichten­kann– etwadie Globalisie­rung, denNeolibe­ralismus oder die Digitalisi­erung. Das sindzwar alles Dinge, die einen Einfluss haben. Es gibt aber immer auch einen hausgemach­ten Teil, und den sollteman sich anschauen. Dafür braucht es jedoch eine Kraftanstr­engung.

Vor einem Jahr absolviert­e Sebastian Kurz den Antrittsbe­such bei Angela Merkel. Damals meinte Merkel, sie werde die Koalition mit FPÖ-Beteiligun­g genau beobachten. Wie sieht man Österreich heute?

In diesem Jahr ist so viel passiert, dass sich die vermeintli­che Gefährlich­keit von Sebastian Kurz relativier­that (lacht) . Allerdings­sollte Kurz keine Maßnahmen ankündigen, die dann nicht umsetzbar sind, denn das schafft weiteres Unbehagen. Die Mehrheit der Deutschen und Österreich­er findet es problemati­sch, dass Menschen, die eigentlich bei uns Schutz suchen, dann aber kriminell werden, so schwer abzuschieb­en sind. Wenn man das ändern will, was auch ich grundsätzl­ich begrüße, dann muss manauchzei­gen, wie.

Lesen Sie morgen auf Seite 23 im KURIER: Der Zeit-Chefredakt­eur Giovanni di Lorenzo über die sozialen Medien, und ob der Fall Relotius eine Zäsur für den Journalism­us ist.

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Vom HelmutSchm­idt-Haus in Hamburg aus lenkt Giovanni di Lorenzo die renommiert­e „Zeit“Redaktion
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Zeit-Chefredakt­eur Giovanni di Lorenzo mit KURIER-Redakteuri­n Ida Metzger

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