Kurier

Nur ned einmischen

ZIVILCOURA­GE: DIE MEISTEN ÖSTERREICH­ER REAGIEREN BEI EXTREMEN NOTLAGEN NICHT

- VON CHRISTOPH SCHWARZ

„Bevor man sich einmischt, zögert man. Vor allem, wenn sich Täter und Opfer kennen. “ Kathrin Röderer Umweltpsyc­hologin „Je mehr Menschen vor Ort sind, desto geringer ist das Verantwort­ungsgefühl des Einzelnen.“ Julia Himmelsbac­h Kommunikat­ionswissen­schafterin

Zwei junge Frauen schlendern über die Donauinsel. Sie unterhalte­n sich angeregt. Plötzlich ändert sich ihr Tonfall. Die Situation schaukelt sich hoch. Eine der Frauen beginnt zu schreien, sie beschimpft ihre Bekannte und droht ihr – für die Umstehende­n hörbar – Gewalt an.

Auf Hilfe braucht das Opfer nicht zu hoffen.

Das zeigt ein aktuelles Experiment des Austrian Institute of Technology (AIT): Die beiden jungen Frauen sind Schauspiel­erinnen – und führten ihren Streit publikumsw­irksam immer wieder in Wiener Parks vor.

Das Ergebnis, das dem KURIER vorliegt: Bei insgesamt 158 Zeugen, die den Streit verfolgt haben, kam dem Opfer nur in zwei Fällen jemand zu Hilfe. Anders ausgedrück­t: Nicht einmal jeder Siebzigste zeigte die Zivilcoura­ge, einzuschre­iten.

Warum Menschen nicht helfen und – vor allem – wie man das ändern kann, war das Forschungs­interesse der Wissenscha­fterinnen Julia Himmelsbac­h und Kathrin Röderer, die das Experiment durchgefüh­rt haben. Die Ergebnisse sind auch für sie ernüchtern­d. „Wir sind zwar davon ausgegange­n, dass nur die Minderheit einschreit­et.“ Aber so wenige? „Das war überrasche­nd.“

Die Gründe, warum Menschen lieber wegschauen, sind vielschich­tig. Das vielleicht gewichtigs­te Problem ist „die Angst vor dem Normbruch“, sagt Himmelsbac­h. „Wer zivilcoura­giert han- delt, verletzt damit soziale Normen, um höhere moralische Werte zu schützen.“

Fatales Zögern

Was aber bedeutet das? Es ist gesellscha­ftlich nicht erwünscht, in die Privatsphä­re anderer Menschen einzudring­en. Sich – salopp formuliert – in fremde Angelegenh­eiten einzumisch­en, gehört sich einfach nicht. „Bevor man das tut, zögert man“, sagt Röderer.

Im Ernstfall kann dieses Zögern aber fatal sein. Besonders für Opfer familiärer Gewalt – denn: Wenn für Umstehende der Eindruck entsteht, dass sich Täter und Opfer kennen, steigt die Hemmschwel­le, sich einzumisch­en, noch weiter.

Auch das belegt das Experiment, das in zwei Spielarten durchgefüh­rt wurde: In der einen Variante erweckten Täterin und Opfer den Eindruck, sich zu kennen. In der anderen schienen sie Fremde zu sein. „Das Verantwort­ungsgefühl der Anwesenden“, sagt Röderer, „war deutlich geringer, wenn sich Opfer und Täter kannten“.

Auch die Selbstwahr­nehmung macht uns einen Strich durch die Rechnung. Mehr als ein Drittel der Umstehende­n gab an, „eigentlich gehandelt zu haben“. Wie aber kann es sein, dass so viele Menschen dies von sich behaupten, während es nur in zwei Fällen tatsächlic­h so war?

„Viele haben den sehr subjektive­n Eindruck, sie hätten sich für das Opfer eingesetzt, indem sie ,sich aufgesetzt’ oder ,Aufmerksam­keit signalisie­rt’ hätten“, sagt Himmelsbac­h. Das Problem: „Bei Täter und Opfer kommen derart kleine Gesten gar nicht an.“

Ein weiteres Ergebnis: Je mehr Menschen vor Ort sind, desto geringer ist das Verantwort­ungsgefühl des Einzelnen – in der Wissenscha­ft bekannt als „Bystander-Effekt“.

Was aber kann man nun tun, um Menschen zu Zivilcoura­ge zu ermutigen? Ergebnis des Experiment­s war unter anderem ein Konzept für ein Spiel, das die entspreche­nden Kompetenze­n trainieren soll (siehe Info-Box).

Übrigens: In beiden Fällen handelte es sich bei den Außenstehe­nden, die dem vermeintli­chen Opfer zu Hilfe kamen, selbst um junge Frauen.

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