Kurier

„Sie waren bei dieser Frau und haben sie nicht erwürgt?“

Stella Goldschlag. Auf den kitschigen Roman folgt die Biografie der „Greiferin“; und die ist lesenswert.

- VON PETER PISA

Er habe gelesen, vier von zehn Deutschen wüssten nicht, dass Auschwitz ein Vernichtun­gslager war.

Um den Holocaust im Gedächtnis zu halten, deshalb habe er „Stella“geschriebe­n.

Die Kritik im Jänner war mehrheitli­ch entsetzt. Der Roman des Spiegel-Redakteurs Takis Würger wurde bloß zur Liebesgesc­hichte. Schmus. Auch im KURIER stand, der Autor sei an Mutlosigke­it gescheiter­t. Nicht einmal versucht habe er, die Niedertrac­ht auszuloten.

Stella Goldschlag (1922 –1994, Selbstmord) lieferte in Berlin, genau weiß man es nicht, bis zu 3000 Juden an die Gestapo aus. Sie war die f leißigste „Greiferin“. Und war selbst Jüdin. Sie wurde verhaftet, gefoltert – und begann zu denunziere­n, um sich und ihre Eltern zu schützen. Die Eltern wurden ermordet. Stella machte weiter.

Neu aufgelegt

Takis Würger erklärt auf seiner Lesereise, inspiriert habe ihn Peter Wydens Biografie aus dem Jahr 1993. Leider sei sie vergriffen. Das ist sie nicht mehr: Der Steidl Verlag in Göttingen legte „Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte“dieser Tage aus aktuellem Anlass neu auf. Allein schon das Vorwort erreicht, was Takis Würger nicht geschafft hat.

An Primo Levis Beobachtun­gen im KZ wird erinnert. An einen bis zum Skelett abgemagert­en Häftling, der auf der Latrinenst­ange saß, sich nicht halten konnte, stürzte und hilf los versank.

Biograf Wyden lebt nicht mehr. Er war Schulkolle­ge Stella Goldschlag­s. Ihm und seiner Familie gelang die Flucht nach Amerika. Als er nach dem Krieg erfuhr, was aus seiner „Schönen“geworden war, recherchie­rte er jahrzehnte­lang. Machte 200 Interviews. Machte Stella Goldschlag ausfindig. Sie log, wie sie auch in ihrem Prozess 1957 (zehn Jahre Gefängnis) gelogen hatte.

Manche schimpften Wy- den nachher: „Sie waren bei dieser Frau und haben sie nicht erwürgt?“– „Ich bin kein Mörder. Hitler hat Menschen ermordet.“

Seine Biografie kann nicht DIE Antwort geben auf die Frage, warum sie den Mördern mit großem Spürsinn half.

Aber er nähert sich mehreren Antworten. Er umkreist das Böse – und genauso die Tatsache, dass Menschen zu vielem fähig sind, wenn’s ums eigene Überleben geht.

Der Häftling auf der Latrinenst­ange ... Mithäftlin­ge sahen seinem Versinken im Kot tatenlos zu.

Und in der Nacht wurden im Lager Schlafende­n die Schuhe gestohlen ... ohne Schuhe war Arbeit in der Kälte unmöglich, schnell landete man in der Gaskammer.

Würgers „Stella“verkauft sich trotz allem bestens. Wydens Buch müsste / sollte sich viel besser verkaufen.

Berührend

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Zehn Jahre Gefängnis: In ihrem Prozess 1957 in Berlin-Moabit versuchte Stella Goldschlag, sich als Opfer darzustell­en
 ??  ?? Peter Wyden: „Stella Goldschlag“Übersetzt und mit einem Vorwort von Ilse Strasmann. Steidl Verlag. 384 Seiten. 20,60 Euro. KURIER-Wertung:
Peter Wyden: „Stella Goldschlag“Übersetzt und mit einem Vorwort von Ilse Strasmann. Steidl Verlag. 384 Seiten. 20,60 Euro. KURIER-Wertung:

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