Ein Rufer in der Wüste
Sven-Eric Bechtolf. Der Burg-Schauspieler über Hauptmanns „Die Ratten“, den Zeitgeist und das Volkstheater
„Die Ratten“: Sven-Eric Bechtolf spielt doch noch einmal in der Burg.
KURIER: Sie inszenierten an der Staatsoper, spielten im Burgtheater, leiteten 2015 und 2016 die Salzburger Festspiele. Danach trugen Sie sich mit dem Gedanken, hier Ihre Zelte abzubrechen. Leben Sie noch in Wien? Sven-Eric Bechtolf:
Nein, wir sind schon in Leipzig. Das hat familiäre Gründe. Meine Frau kommt von dort. Und wenn man ein kleines Kind hat, ist eine Großmutter nicht mit Gold aufzuwiegen.
Sie spielen trotzdem wieder. Haben Sie sich erweichen lassen?
Erweichen lassen? Das wäre ja dreist! Nein, ich fühle mich geehrt! Andrea Breth fragte mich, ob ich in Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“den Hassenreuter spielen würde. Und ich habe selbstverständlich „ja“gesagt.
Premiere ist am Mittwoch. Das Stück spielt Ende des 19. Jahrhunderts in einer Berliner „Wanzenburg“: Putzfrau Henriette John schwatzt dem Dienstmädchen Pauline Piperkarcka deren uneheliches Baby ab. Die Geschichte endet tragisch …
Hauptmann beschreibt ein herzzerreißendes Elend. Aber er hat sich offenbar gefragt, ob das Theater so etwas überhaupt abbilden kann oder darf. Daher erfindet er eine fast Pirandellohafte Nebenhandlung, in der über das Theater debattiert wird. Der eine sagt: „Sie sind verrückt! Sie glauben allen Ernstes, dass ein Friseur oder eine Reinmachefrau ebenso gut ein Objekt der Tragödie sein könnte wie Lady Macbeth oder King Lear.“Und der andere sagt: „Natürlich glaube ich das! Das Theater muss endlich auf hören mit dem schrecklich erhabenen, klassischen Käse von Goethe, es muss sich den wirklichen Menschheitsproblemen zuwenden.“Beide Positionen kann man vertreten. Aber sie sind gleichzeitig grotesk inkommensurabel gegenüber der Misere der Wirklichkeit.
Der eine ist der Theaterdirektor Harro Hassenreuter, der im Dachstuhl der Mietskaserne sei- nen Theaterfundus untergebracht hat und sich dort mit Elevinnen vergnügt, der andere ist sein Schüler Erich Spitta.
Für den Hassenreuter gibt es eine Vorlage: Alexander Heßler, Intendant in Straßburg, bei dem Hauptmann tatsächlich Schauspielunterricht genommen hat. Es könnte sein, dass sich damals ähnliche Debatten zugetragen haben wie zwischen Hassenreuter und Spitta.
Die Figur müsste Ihnen liegen. Sie hat Abgründe ...
Deshalb soll sie mir liegen? Das ist ja reizend! Wo ich doch ein lieber Mensch bin! (lacht) Der Hassenreuter ist vielleicht keine Rolle, nach der man sich jahrelang die Finger schleckt, sondern eher ein herausforderndes Problem. Wie auch der Spitta. Hauptmann beschreibt auch ihn nicht so besonders freundlich. Spitta ist ein verschrobener Intellektueller. Beide Rollen sind kompliziert zu spielen, weil sie u.a. Vertreter von Haltungen sind – und dramaturgische Funktion haben. Ich glaube, Hauptmann hatte beide Polaritäten in sich und hat sie und sich mit satirischer Säure übergossen: Was sind wir eigentlich für Heinis, die auf der Bühne stehen – und nicht in der Lage sind, etwas in der Gesellschaft zu verändern? Wir haben ja nur die Kunst. Ist das, was wir machen, eigentlich relevant? Auch Spitta versagt vor der Wirklichkeit: Im entscheidenden Moment setzt er sich nicht für Frau John ein.
Die Position Hassenreuters ist Ihrer nicht unähnlich. Sie treten für Produktionen ein, die, wie Sie im KURIER sagten, „nicht immer dem Zeitgeist entsprechen, tagesaktuell und auf unsere Befindlichkeiten runtergebrochen sein müssen, sondern uns vielleicht übersteigen“.
Wenn Hassenreuter verlangt, dass man als Schauspieler Schiller sprechen können soll: Ja, das kann ich unterschreiben. Die Position des Spitta hat sich aber natürlich durchgesetzt. Über diese Antagonismen noch eine Debatte führen zu wollen, ist inzwischen völlig sinnlos. Ich habe sie jahrelang geführt – und mir damit nicht viele Freunde gemacht.
Haben Sie wirklich so viele Schläge einstecken müssen?
Ja. Es hat mir jedenfalls viel schlechte Presse eingebracht. Ich war einer der wenigen Rufer in der Wüste, die glaubten, dass Theater als Kunstform mehr kann. Aber das ist nicht mehr en vogue. Der Zeitgeist ist erfolgreich darüber hinweggegangen. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Zu meiner Ehrenrettung: Ich habe nie Kollegenschelte betrieben. Ich habe gesagt: Es soll alles geben!
Also von der postdramatischen Textfläche bis zum griechischen Tragödie.
Ja. Ich persönlich sehe gerne eine „Geschichte“, mich interessiert eine identifizierende Haltung des Schauspielers zu seiner Figur und ich erwarte eine bestimmte Form von Mittelbeherrschung. Das wollte ich gerne ab und zu auf der Bühne sehen. Aber das ist zusehends verschwunden. Das, was früher die freie Szene, das Off-Theater, war, ist heute der Mainstream. Aber offensichtlich ist es das, was die Zuschauer wollen. Denn sonst würden die Spielpläne anders ausschauen.
Vielleicht ist es das, was die Dramaturgen wollen?
Das auch. Hinzu kommt: Die Schauspielerei braucht die Weitergabe über die Generationen. Als junger Schauspieler stand ich in der Bühnengasse, um Will Quadflieg zuzugucken. Auch wenn ich seine Art zu spielen altmodisch fand: Trotzdem habe ich ihn bewundert! Die großen, alten Schauspieler verschwinden langsam. Das erfüllt mich mit Kummer, denn mit ihnen stirbt ein Teil unserer Kunst, der nicht weiter gepflegt worden ist.
Sie könnten mehr spielen und damit Ihre Ideale propagieren.
Es hat sich einfach nicht ergeben. Ich hab’ zu viel anderes Zeug gemacht. Ich war ziemlich f leißig und jetzt wüsste ich gar nicht mehr so genau, an welches Haus ich fest gehen würde – wenn ich es wollte.
Die Stadt Wien sucht eine neue Leitung fürs Volkstheater.
Ich bin nicht gefragt worden. Im Übrigen tut es mir für Anna Badora sehr leid, die ja in Graz großartiges Theater gemacht hat. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Mir wäre am liebsten, wenn sich ihr Haus „derappelte“. Das ist allerdings schwierig, wenn man permanent verdroschen wird. Ich hatte übrigens mein Schauspieler-Debüt am Volkstheater – 1979 als Benvolio in „Romeo und Julia“. Das war in der ersten Saison von Paul Blaha. Eine Zeitung schrieb: „Bechtolf spielt wie ein Anfänger.“Das stimmte natürlich. Es war schließlich mein erstes Jahr am Mozarteum.
Was würden Sie raten?
Die Zeiten, als es ein Zeichen von distinguierter Bürgerlichkeit war, ins Theater zu gehen, sind vorbei. Ich kenne viele intelligente Leute, die sagen: „Was? Ich soll mir die Welt von Schauspielschülern erklären lassen?“Es ist außerdem heutzutage nicht so leicht, ein großes Theater zu leiten, wenn es in 200 Meter Luftlinie gleich zwei weitere Häuser gibt. Man muss eine sehr genaue Vorstellung davon haben, was gespielt werden soll. Es geht um das, was man heute grässlicher Weise „Alleinstellungsmerkmal“nennt. Oder vielleicht muss man sich eingestehen, dass ein drittes Theater neben den beiden kannibalistischen Konkurrenten gar nicht mehr funktionieren kann? Vielleicht ist das Kontingent an interessierten Theaterbesuchern bereits mit ihnen erschöpft?
Was wäre ein „Alleinstellungsmerkmal“?
„Wir haben leider keinen René Pollesch, aber wir machen so etwas Ähnliches“: Das wird nicht funktionieren. Vielleicht will jemand ein wirklich österreichisches Theater machen? Mit den großen österreichischen Autoren der Vergangenheit und der Gegenwart – und mit einem österreichischen Ensemble. Es gäbe ja genügend tolle Dichter, Autoren, Schauspieler. Aber das ist jetzt nur so schnell dahingesagt.
Würde es Sie prinzipiell reizen, ein Haus zu führen?
Wenn die Rahmenbedingungen passen. Und ich das Gefühl hätte, etwas ausrichten zu können. Was mir bei den Salzburger Festspielen am meisten Spaß gemacht hat: Dass man überall etwas zu tun hat – von der Gestaltung der Programmhefte über die Brandschutzverordnung und die Finanzen bis zu den Bauproben. Wenn dann auch noch die Klos so ausschauen würden, wie ich es haben will: Das wäre eine schöne Sache.
Wird der Hassenreuter Ihre letzte Rolle am Burgtheater sein?
Möglicherweise. Auch zum Spielen muss man gefragt werden. Und ich bin nicht gefragt worden. Unabhängig davon: Martin Kušej ist mit einer gewissen Logik Direktor geworden, ich habe mir nichts Anderes erwartet. Ich hoffe, dass er die Sache gut hinkriegt. Und natürlich müssen sich bei einem Intendantenwechsel bestimmte Dinge ändern, darunter auch Gesichter. Und schließlich: Ich hatte wunderbare Jahre an der Burg. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ihre nächsten Pläne?
Ich inszeniere an der Mailänder Scala ein eigentlich uninszenierbares Stück – „Die ägyptische Helena“von Richard Strauss. Kommt im November heraus.