Kurier

Chef für die EU gesucht: Ringen um den Topjob der Kommission hat begonnen

Bei einem EU-Sondergipf­el werden heute erste Weichen gestellt

- VON IDA METZGER

Brüssel.

Nach der Wahl ist vor der Wahl: Heute kommen die Staats- und Regierungs­chefs der EU zu einem Sondergipf­el zusammen, um über die Neubesetzu­ng der fünf wichtigste­n Jobs in der Union zu beraten. Und damit geht der Machtkampf zwischen den EU-Regierunge­n und dem Parlament richtig los. Denn die Parlamenta­rier wollen nur jemanden zum Nachfolger von Kommission­spräsident Juncker küren, der als europäisch­er Spitzenkan­didat wahlgekämp­ft hat. Einige Regierungs­chefs aber wollen sich den Namen nicht vorschreib­en lassen.

Jung und grün

In Brüssel freuen sich die EU-Abgeordnet­en über die europaweit­e hohe Wahlbeteil­igung von 50,5 Prozent. Dass aber das Spitzenkan­didatensys­tem dieses Mal so viele Europäer an die Urnen lockte, wird bezweifelt. Vielmehr spornte zuletzt der Kampf gegen den Klimawande­l die Wähler an. Davon haben besonders die europäisch­en Grünen profitiert. Und ihre Wähler waren die Jüngsten unter allen Parteien.

Um 16.14 Uhr war gestern Schluss für Kurz als Bundeskanz­ler. Die Abgeordnet­en von SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt (110 von 183 Stimmen) wählten den ÖVP-Kanzler ab. Ein historisch­er Moment. Noch nie in der Zweiten Republik wurde einem Kanzler und seiner Regierung vom Parlament das Misstrauen ausgesproc­hen.

Wortlos und umgehend verließ Sebastian Kurz das Parlament. Er war der jüngste Kanzler. Mit dem Rauswurf ist er der jüngste Altkanzler.

Trotz des denkwürdig­en Moments wehte kein historisch­er Hauch durch das Hohe Haus. Emotionslo­se Reden, die keine großen Erinnerung­en hinterlass­en werden, dominierte­n den Tag.

Regungslos abgewählt

Dazu kam eine emotionslo­se Regierungs­bank, die fast stoisch ihre Abwahl über sich ergehen ließ. Die Debatte verlief so ruhig, dass Peter Pilz über die Gelassenhe­it des Noch-Kanzlers Kurz in Rage geriet: „Auch in der Stunde seiner möglichen Abwahl interessie­rt sich der Kanzler nicht fürs Parlament, sondern fürs Handy.“

Tatsächlic­h ließ sich in Kurz’ Miene kaum Enttäuschu­ng ablesen. Nur ein Mal blitzte so etwas wie Unmut und Unverständ­nis beim ÖVP-Chef auf. Als der neue FPÖ-Klubchef Herbert Kickl ihm vorwarf, in den vergangene­n Tagen „sein anderes Gesicht“gezeigt zu haben. Es sei Kurz bei der Auf kündigung der Koalition „um die Wiederhers­tellung der alten ÖVP-Machtachse“gegangen.

Kurz schüttelte mehrmals den Kopf. „Dies sei gelungen“, sagte Ex-Innenminis­ter Kickl, Justiz- und Innenresso­rt seien „beide nun wieder in festen Händen der Volksparte­i“. „Niederöste­rreich hat die Macht übernommen.“

Die Worte der Empörung von Kurz waren nicht hörbar, aber man konnte auf seinen Lippen ein deutliches „Was?“als Reaktion ablesen. Mit ruhiger Stimme provoziert­e Kickl abschließe­nd nochmals in Richtung Kurz: „Herr Bundeskanz­ler, dieser Griff nach der Macht ist widerlich.“Eine Szene wie aus einem veritablen Rosenkrieg.

Spult man die vergangene­n Stunden zurück, gewinnt man den Eindruck, dass die Nervosität vor der Sondersitz­ung inklusive Misstrauen­santrag größer war, als im Moment des Sturzes selbst.

Noch am EU-Wahlabend versammelt­e Kurz nach seiner Siegesrede seine engsten Berater und Minister im dritten Stock der ÖVP-Zentrale zur mehrstündi­gen Strategieb­esprechung. Kurz gab sich zwar „sprachlos“angesichts des Erdrutschs­ieges von 34,9 Prozent, zum Feiern war dem ÖVP-Kanzler allerdings nicht – bereits um 21.40 Uhr verließ Kurz die Wahlparty .

Standing Ovations

Am Montagvorm­ittag bereitete sich Kurz in seiner Wohnung in Wien-Meidling auf den bittersten Tag seiner bis dahin steilen Karriere vor. Er feilte an seiner Rede vor der Abwahl. Von zu Hause fuhr er ohne Zwischenst­opp im Bundeskanz­leramt direkt zu den Containerb­üros des ÖVPParlame­ntsklubs am Heldenplat­z. Mit stehenden Ovationen begrüßten ihn die 61 Abgeordnet­en und die NochÖVP-Minister. Über eine Stunde lief die ÖVP-Klubsitzun­g, bevor die Minister zu Fuß in Richtung Plenarsaal auf brachen. Kurz fuhr mit seiner Dienstlimo­usine. Um 13.04 Uhr betrat Kurz als letzter den Plenarsaal. Von der Auftaktred­e von SPÖ-Vizeklubch­ef Jörg Leichtfrie­d fühlte sich Kurz zwar mehrfach provoziert. Seine Antwort verlief aber sachlich und ohne Polemik.

Kurz sprach von einer „Zäsur in der politische­n Arbeit im Land“und verurteilt­e das Misstrauen der SPÖ gegenüber den neuen Expertenmi­nistern: „Bis heute habe ich keine einzige kritische Stimme für die Auswahl der Experten gehört.“Und meinte weiter: „Ich verstehe ja die Rachegelüs­te in der aufgeheizt­en Stimmung.“Kein Verständni­s zeigte Kurz, „dass nun die ganze Regierung gestürzt werden soll. Das versteht niemand im Land“.

Zwölf Minuten dauerte der Auftritt des Kanzlers. Nach der Abwahl verließ er wortlos das Parlament. Wieder ging es nicht zum Kanzleramt, sondern Kurz wählte den Weg in seine Wohnung. Telefonier­te mit Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen und sicherte ihm volle Kooperatio­n und ordentlich­e Übergabe zu. Ein geplantes Abendessen mit Arnold Schwarzene­gger sagte er ab. Er hatte anderes vor. Die Wähler sind ab sofort seine Priorität.

„Keine Wut und Trauer“

Ab 18.30 Uhr warteten seine Fans in der Politische­n Akademie der ÖVP, um „ihren Kanzler“zu feiern. 2.000 Weggefährt­en hatten sich hier zum Abwahl-PublicView­ing bei strömenden Regen versammelt. Nur zwei Stunden und 15 Minuten nach seinem Rauswurf aus dem Bundeskanz­leramt befand sich Kurz bereits im Wahlkampfm­odus. Wie ein Rockstar zog Kurz umringt von den ÖVP-Ministern ein.

Der jüngste Altkanzler feierte die Auftaktpar­ty für sein Comeback. Natürlich könne man den Misstrauen­santrag nach dem Ergebnis der EU-Wahl ungerecht finden, aber „nehmen wir diese Entscheidu­ng zur Kenntnis. Das ist eine demokratis­che Entscheidu­ng und für Wut, für Hass, für Trauer ist überhaupt kein Platz“, stimmte Kurz seine Unterstütz­er auf den Wahlkampf ein.

Nachdem er noch zahlreiche Selfie-Wünsche erfüllt hatte, wurde der ÖVP-Chef mit dem Song „Steh’ auf für Sebastian“von den Unterstütz­ern verabschie­det.

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Nach seiner Abwahl stürzte sich Sebastian Kurz schon wieder in den Wahlkampf

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