Kurier

Die neue Deutsche Welle ist grün

Grüne als Gewinner der EU-Wahl, sie stehen nun aber vor Herausford­erungen – Besuch an der Basis

- AUS BERLIN S. LUMETSBERG­ER

In neun der zehn größten Städten sind sie die Nummer eins. Wie in Berlin, wo sie in sechs Bezirken mit über 30 Prozent führen. Auch im Stadtteil Tempelhof-Schöneberg, dem Wahlkreis von SPD-Bürgermeis­ter Michael Müller. Im Kiezbüro der Grünen in der Kolonnenst­raße ist man mehr als zufrieden, steht aber auch vor der Frage: Wie geht es weiter?

An diesem Abend müssen erst einmal Sessel nachgereih­t werden, immer wieder kommen Leute bei der Tür rein: Bezirkspol­itiker, Ehrenamtli­che, Anrainer und ein Ex-Mitglied, das wieder mitmachen will. Am Ende sitzen 30 Menschen im Raum, um die Wahl zu analysiere­n. Der Beamer wirft eine fast grüngefärb­te Stadtkarte an die Wand. Hier im Bezirk erreichte man 32,5 Prozent, weit vor CDU und SPD. Eine Frau seufzt zufrieden. Doch die Superlativ­e kommt noch, verspricht Schatzmeis­ter David: 53,5 Prozent im Akazienkie­z, eine Gegend mit Familien, Bio-Läden und Cafés: Nirgendwo ist es grüner.

So schön die Ergebnisse sind, David wird heute noch erklären, warum er nicht nur deshalb Gänsehaut hat. Es kommt viel auf die Grünen zu. Seine Devise: „Auf dem Teppich bleiben.“

Erstmals Zweiter

Vergangene­n Sonntag haben die Grünen bewiesen, dass sie nicht nur Umfragekai­ser sind. Nach den Wahlerfolg­en in Hessen und Bayern wurden sie bei einer bundesweit­en Wahl zweitstärk­ste Kraft. Das ist eine Ansage an Union und SPD, die seit der Bundestags­wahl verlieren.

Den Grünen kam das Bewusstsei­n für mehr Klimaschut­z zugute. 48 Prozent der Wähler sahen es als das wichtigste Thema. „Es wird längerfris­tig an Bedeutung behalten, weil es nicht mit einer spezifisch­en Krise oder einem Unfall verbunden ist“, sagt Politologe Martin Dolezal, der an der Universitä­t Salzburg und dem Institut für Höhere Studien in Wien forscht. Profitiert haben die Grünen zudem von den jungen Menschen, die freitags für Klimaschut­z protestier­en. Ob diese Mobilisier­ung weiter anhält, ist fraglich, so Dolezal.

Das beschäftig­t auch die Menschen, die ins Kiezbüro gekommen sind. Momentan schwimme man auf der Welle mit, stellt ein Helfer fest. „Was tun wir, wenn es die Demos einmal nicht mehr gibt?“Nina, Studentin und Kreisvorst­andsmitgli­ed, weist auf die sozialen Themen hin, die sie nicht aus den Augen lassen dürften. Gerade das Wohnungsth­ema sei in den Städten groß, „wir müssen klare Positionen beziehen“.

Die Erwartunge­n an Grüne, die bisher keine ZwanzigPro­zentpartei waren und auch nicht die strukturel­len und personelle­n Mittel haben, sind groß, erklärte Parteichef Robert Habeck am Montag. „Wir haben keine Angst vor guten Wahlergebn­issen, aber wir wissen, dass wir Hoffnungen geweckt haben, die erfüllt werden müssen.“

Zum Beispiel bei Filmemache­r Tom. Der gebürtige Münchner hält viel von Habeck („Haben Sie sein Buch gelesen?“) und ist zum ersten Mal beim Grünen-Treff dabei. Umweltschu­tz war ihm immer wichtig, aber politisier­t hat ihn erst die Wahl von Donald Trump. „Wir sitzen auf einer Bombe, wenn wir nicht handeln, geht die Welt kaputt“, sagt der Endvierzig­er.

In seiner Altersgrup­pe – den unter 60-Jährigen – haben die Grünen SPD und CDU überholt. Bei den 18- bis 29Jährigen wurden sie mit 29 Prozent sogar klar stärkste Kraft. Politologe Dolezal sieht die Debatte, dass Grüne nur von einer Generation profitiert­en und keine neuen Wählergrup­pen nachfolgte­n, entkräftet. „Sie sind noch immer in der Lage, Jungwähler anzusprech­en.“Ob sich diese längerfris­tig an die Partei binden, sieht er skeptisch.

Sonst zeigte die Wahl, dass andere alte Gewissheit­en bröckeln können. Zwar punkteten die Grünen in den Städten, was wenig überrascht, da dort grünaffine, höher gebildete und einkommens­starke Schichten leben. Ein Blick auf die Landkarte zeigt aber, dass sie auch dort führen, wo das Einkommen unter dem Bundesdurc­hschnitt liegt: in Dortmund, Wuppertal – einst rote Bastionen. Sogar im Osten, woes die Grünen immer schwer hatten, gibt es Zuwächse. In Leipzig haben sie die Nase vorn.

Schwierige­s Pf laster

Von einer Trendwende ist man aber weit entfernt. Das zeigen die Folien, die der Beamer im Tempelhofe­r Kiezbüro an die Leinwand wirft: Die AfD ist in Sachsen und Brandenbur­g stärkste Kraft geworden. Im Herbst wird dort gewählt. Die Grünen müssen sich auf nicht so schöne Ergebnisse einstellen – und auf Gegenwind. AfDChef Alexander Gauland hat sie zum Feindbild erklärt.

Darüber diskutiere­n jetzt die Tempelhofe­r Grünen. Den Kollegen im Osten will man helfen. „Das gibt Aufwind, wenn wir klare Kante zeigen“, meint eine Frau. Ihr Sitznachba­r ist für Schulungen, wie man mit Rechten argumentie­rt, bevor es in den Wahlkampfu­rlaub geht.

Doch zuerst steht in Berlin Praktische­s an: Es braucht Freiwillig­e, die Wahlplakat­e einsammeln. Und sollte der Höhenflug weitergehe­n, bald mehr Kandidaten, um die Ämter zu besetzen, die Grüne abräumen.

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Umwelt- und Klimaschut­z sind bisher Hauptargum­ent für Grün-Wähler – die Basis mahnt jetzt, soziale Themen nicht zu vernachläs­sigen

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